Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Zypern: die Solidarität zwischen uns

Es mag heute Unterschiede geben zwischen uns Muslimen, aber sicher noch mehr Gemeinsamkeiten. Der Islam in Europa hat heute natürlich kulturell unterschiedliche Ausprägungen, aber im Kern geht es uns europäischen Muslimen darum, den Islam zunächst einmal korrekt zu praktizieren. Das ist unsere Basis. Die Regeln der 'Ibadat und Mu'amalat, das Recht, verbindet alle Muslime. Die Praxis dieser Regeln entzieht sich dabei den politischen Begriffsbestimmungen, zwischen liberal und konservativ.

Hier auf dieser Konferenz, wollen wir über die Essenz des „Islam“ in Europa nachdenken. Diese Inhalte des Islam freizulegen ist nicht immer einfach. Wir lesen heute jeden Tag in den Zeitungen über die Rolle der Muslime in den europäischen Gesellschaften. Seit dem Untergang der Ideologien zu Beginn des letzten Jahrhunderts ist es die Präsenz der Muslime in Europa, die heute Freund und Feind „politisch“ beschäftigt. Nicht wenige Europäer – vor allem radikal Konservative – definieren sich heute leider nicht positiv, sondern negativ; nämlich gegen den Islam. Es ist daher wichtig, dass wir eine klare Position definieren. Die einfachste und schwerste Frage ist für uns alle dabei zunächst: „Was ist der Islam?“ Vielleicht noch konkreter: „Was bedeutet heute der Islam für Europa?“

Natürlicherweise sind gerade wir europäische Muslime – also wir Muslime, die in Europa leben und europäische Sprachen sprechen – aufgefordert, diese Fragen positiv zu beantworten! Das ist sehr wichtig, denn viele Europäer sind heute verunsichert, was es mit dem Islam auf sich hat. Viele Umfragen zeigen, dass viele dem Islam – oder was sie dafür halten – mit großer Skepsis begegnen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Missverständnisse, schlechte Beispiele und mitunter auch Lügen. Das Erkennen, „was der Islam ist“, also in seiner positiven Substanz, ist für viele Nicht-Muslime nicht gerade einfach. Viele Beiträge der Medien sind eher verwirrend. Viele Äußerungen über den Islam sind heute nicht „objektiv“. Die Unterscheidung, was der Islam wirklich ist, setzt im Grunde für den Beobachter einiges Wissen über die philosophischen, geschichtlichen und erkenntnistheoretischen Rahmenbedingungen der Debatte über den Islam voraus.

Philosophisch: Europa tut sich schwer mit Religion. Das heute herrschende säkulare Denken sieht in der Religion nur noch eine Wissenschaft, die sich neben den anderen Wissenschaften, um einen speziellen Lebensbereich – eben den religiösen – kümmert. Diese Sichtweise verkennt zum Beispiel den ökonomischen und sozialen Teil der islamischen Botschaft.

Historisch: In vielen Teilen Europas wurde die Geschichte des Islam von Nichtmuslimen geschrieben. Die Ganzheitlichkeit der islamischen Geschichte, seine wichtigen Einflüsse auf das Leben in Europa, gingen dabei verloren.

Erkenntnistheoretisch: Natürlich muss man erkennen können, dass nicht alles, was Muslime heute tun, denken oder sagen, mit dem Islam zu tun hat. Bei einem wichtigen Thema, hat dies der türkische Ministerpräsident Erdogan immer wieder klar gestellt: „Es mag muslimische Terroristen geben, es gibt aber sicher keinen islamischen Terrorismus!“

Aber es gibt auch einen anderen Grund für die Schwierigkeit, den Islam heute gut zu erkennen. Wir Muslime selbst erklären viel zu selten umfassend, was der Islam wirklich ist. Oft fällt es uns Muslimen heute leichter zu sagen, was der Islam nicht ist. So haben wir bis heute immer wieder klar gemacht, dass der Islam keine Ideologie ist oder keinen Terrorismus anerkennt, keine Kultur und eben auch nicht nur eine Religion ist.

Was aber ist der Islam? Um den Islam und unsere Welt noch präziser und positiv zu beschreiben, um eben zu sagen, was der Islam ist, ringen wir oft um die richtigen Worte. Hier begegnen wir naturgemäß dem wichtigen Problem der Terminologie. „Alle staatsrechtlichen und politischen Begriffe sind säkularisierte theologische Begriffe“, erinnerte der Staatsrechtler Carl Schmitt an die Geschichte der politischen Begriffe und ihre Beziehung zum Christentum und römischen Recht. Wenn wir den Islam genau und positiv fassen wollen, brauchen wir in vielen Bereichen unsere eigene Terminologie. Wir sollten den Mut haben, zu unserer eigenen Terminologie zu stehen! Nur wenn wir den Dingen und Phänomenen im Islam den richtigen Namen geben und eine wahre Definition, können wir das Gespräch in Europa auf dem gewünscht hohen Niveau führen.

Ein weiterer wichtiger Punkt für uns ist die Nennung der richtigen Prioritäten. Im Islam geht es ja nicht nur um Nebensächlichkeiten. Im Islam geht es um das Leben selbst. Jeder Mensch, dem es nicht nur um den Erhalt seiner Subsistenz geht, sondern um die „condition humane“ an sich, wird diese Prioritäten auch anerkennen. Es sind doch die alten, immer wieder neu gestellten Fragen: Gibt es einen Schöpfer? Gibt es göttlich inspiriertes Recht? Was macht unser Dasein zwischen Leben und Tod sinnvoll? Gibt es ein Schicksal? Was heißt heute Freiheit in Europa? Wir müssen uns auch auf die Fragen unserer Zeit beziehen, insbesondere die Herausforderungen der Technik und Finanztechnik bedenken.

Ich erwähne diese Fragen, weil wir Muslime heute oft genug nur von unwichtigen Dingen sprechen, die sogar lächerlich erscheinen können, zumindest solange unsere Antworten auf die obigen Grundfragen unbekannt sind. Ohne klare Antworten auf die Grundfragen des Daseins macht unsere Existenz in Europa nur begrenzt Sinn. Ibn Ruschd zitiert zu Beginn seines monumentalen Werkes, „Bidajat Al-Mudschtahid“, das Hadith des Propheten: „Wenn Allah für jemanden etwas Gutes will, dann veranlasst Er ihn, über den Din zu reflektieren.“ Wir Muslime, die wir über den Islam sprechen wollen, müssen also die richtigen Prioritäten setzen und die uns offenbarten, richtigen Antworten geben in unserer Zeit.

Es sind wohl die folgenden drei großen Themenkreise, die uns heute als Europäer – hier und jetzt – besonders beschäftigen und inspirieren könnten. Ich möchte diese Themen heute herausgreifen: Die Einheit. Die Zakat. Die Solidarität.

Einheit

Im Koran findet sich eine fulminante Erklärung der Einheit in der Sura Al-Ihklas: „Sprich: 'Er ist Allah, Einer. Allah, der Überlegene. Er hat nicht gezeugt und ist nicht gezeugt worden. Und niemand kommt Ihm gleich.'“ Was bedeutet dieses große Bekenntnis zur Einheit? Im Islam gibt es keine Trennung zwischen Diesseits und Jenseits. Wir sehen in jedem Ereignis die Schöpferhand und deswegen müssen wir in jedem Geschehen – ob gut oder nicht – die Bedeutung suchen. Wir wenden uns so nicht von der Geschichte ab, sondern wir lernen aus ihr. Wir müssen zum Beispiel auch fragen: „Warum gibt es dieses Desaster?“ Noch etwas ist auf der Basis unseres Einheitsdenkens wichtig: Alle Macht ist bei Allah. Wir Muslime können daher weder machtbesessen noch ohnmächtig sein. Wir wissen ja, dass wir nicht die Macht haben. Deswegen dürfen wir auch nicht der Verführung verfallen, wie es der politische Islam hin und wieder tut, unsere Politik oder unseren Willen zur Macht über das Recht zu stellen.

Nur auf der Basis eines reinen Tauhids können wir dann auch in ein spannendes Gespräch mit der europäischen Philosophie treten. Denn, die europäische Philosophie ist ja nichts anderes als die Suche nach der Einheit. Die europäische Philosophie erkennt heute die Ohnmacht des Menschen und seiner Politik.

Zakat

Zakat ist eine Säule des Islam. Es gibt fünf Säulen, nicht nur vier. Die Zakat muss von einer muslimischen Autorität eingezogen werden. Dutzendfach wird im Qur'an das Gebet und die Zakat gemeinsam erwähnt, man kann sagen, dass sie der Gründungsakt jeder muslimischen Gemeinschaft sind. Heute birgt die Zakatnahme aber noch eine sehr aktuelle Botschaft: die Solidarität zwischen arm und reich. Reiche müssen Zakat bezahlen – in Zeiten der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte ist dies eine wichtige Botschaft. Mehr noch, wir können auch als Muslime diese Krise gut interpretieren. In der Sura Al-Baqara (278) heißt es: „Allah hat den Handel erlaubt und Riba verboten.“ Riba ist mehr als nur das bekannte Zinsverbot. Heute erleben wir in Europa die Umkehrung dieses Verses. Wir fordern die Schöpfung mit unserer maßlosen Finanztechnologie heraus. Seit wann fordern wir übrigens die Schöpfung heraus? In Deutschland würde ich dies mit dem Jahr 1794, dem Erscheinungsjahr des berühmten Münzgutachtens von Goethe datieren. Goethe wusste, das „Geld einen innewohnenden Wert haben muss“, er sah die Problematik der „Zettelbanken“ und er beschrieb das Unwesen des Papiergeldes in seinem „Faust“.

Solidarität

Zum Schluss soll auch kurz die Solidarität erwähnt werden. Auch die Solidarität zwischen uns Muslimen zu Europa. Der deutsche Philosoph Gadamer sagt hierzu: „Jedenfalls wird der Fortschritt der Wissenschaft und ihrer rationalen Anwendung auf das gesellschaftliche Leben keine so total andere Situation schaffen, dass es der „Freundschaft“ nicht bedürfte, das heißt einer tragenden Solidarität, die das Ordnungsgefüge des menschlichen Lebens allein möglich macht. (Das Erbe Europas, H.G. Gadamer)

Unsere Solidarität als Muslime ist Ausdruck unseres Glaubens. Die höchste Form der „Marifa“ repräsentiert unser Verhalten. Im „Weg Muhammad“, erinnert zum Beispiel der Gelehrte Schaikh Dr. Abdalqadir As-Sufi, dass der Gesandte Allahs sagte: „Der Din ist Verhalten.“ Dieser Weg muss verkörpert werden. Er ist gelebte Erfahrung. Diese Erkenntnis findet man auch im Deutschen. Dort heißt es: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ Es gibt keinen geistigen Rang, der sich nicht auch in gutem Verhalten äußert. Unsere Existenz in Europa sollte also möglichst nah an das griechische Ideal einer Einheit von Wissen und Handeln kommen.

(Auszug meines Vortrages auf der EMU Konferenz / Zypern 23.9.)