Reisen bildet, heißt es ja so schön. Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, mir im Dezember ein persönliches Bild von der Lage in Ägypten, Libyen und Tunesien zu machen, auch um in vielen Gesprächen die Situation vor Ort besser zu verstehen. An den Originalschauplätzen, so etwa auf dem berühmten Kairoer Tahrir-Platz, ließ sich das dramatische Geschehen der „Arabellion“ tatsächlich besser nachempfinden. Was wissen wir denn schon als gut informierte „Fernsehzuschauer“? Ich hatte Glück, genau an dem Wochenende in Ägypten zu sein, wo allein der wilde Autoverkehr beim Überqueren des Platzes eine Gefahr für Leib und Leben darstellte. Mein Begleiter, ein junger Facebook-Aktivist, beschrieb mir die ungleich dramatischere Lage in den Tagen des Aufstandes. Noch immer ist ungewiß, welche politische Ausrichtung diese Bewegung letztlich nehmen wird. Eine einfache Fahrt durch die dunklen Betonwüsten Kairos lässt aber erahnen, unter welcher enormen sozialen Spannung diese Orte in Zukunft stehen werden.
Peter Scholl-Latour beschreibt in seinem Buch „Arabiens Stunde der Wahrheit“ recht treffend die soziale Realität und den politischen Boden der „Facebook-Revolution“. „Die Solidarisierung per Facebook ersetzte keine persönliche Nähe, und es fehlte diesen Zufallsverbündeten, die den Sturz Mubaraks forderten, aber die Streitkräfte von Vorwürfen verschonten, auch der unentbehrliche instinktive Zusammenhalt“ schreibt der Nahostexperte. Kurzum, wenn man dieser Analyse folgt, könnte den „Zufallsverbündeten“ auf Dauer schnell der Zusammenhalt verloren gehen, vor allem wenn man die These Ibn Khalduns im Hinterkopf behält, dass der Kernpunkt allen geschichtlichen Geschehens und sozialen Zusammenhalts die Gruppensolidarität bildet. Ob der Islam wieder dieser gemeinsame Berührungspunkt und soziale Faktor sein kann, der den Raum über Jahrhunderte prägte, zeigt sich gerade. Natürlich bestehen ernste Zweifel, dass der politische Islam, der gleichzeitig die Muslime aus seiner Natur heraus polarisiert, diesen Zusammenhalt hervorbringen wird.
Im Arabischen Raum erlebten wir bisher in erster Linie eine verständliche Reaktion, in Form eines überfälligen eruptiven Aufstands gegen despotische Regimes, eine Geschichte also, die uns in ihrem weiteren Verlauf suggerieren will, dass die Menschen in Kairo, Tripolis und Tunis nun ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen können. Millionen von Handykameras hatten ihren Nutzern zuvor eine völlig neue Option in die Hand gegeben, nämlich die alten Machthaber per globaler Öffentlichkeitsarbeit unter Druck zu setzen. Tatsächlich ist es für moderne Diktaturen schwerer geworden, ihre Greueltaten vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen. Eine echte neue Ordnung wird sich aus der virtuellen Welt heraus nicht bilden lassen.
Bis heute ist nicht wirklich entschieden, inwieweit die Demokratisierung die erhoffte Freiheit für die arabischen Massen bringen wird. Vorab kann man schon in Sachen „Machtwechsel“ sagen, dass Despoten und ihre Helfer in neuerer Zeit kommen und gehen, während an den Tischen der ökonomisch Mächtigen, auch zwischen Kairo und Tunis, zunächst wenig Wechsel zu beobachten ist. Die antiquierten ökonomischen Eliten werden auch weiter versuchen, ihren Reichtum gegen die Begehrlichkeiten des Volkes abzusetzen. Die, muslimisch gesehen, völlig logische Forderung nach der Etablierung der Zakat, bleibt auch in den Kernländern des islamischen Lebens bisher ungehört.
Fakt ist, die aktuelle Lage ist komplizierter als sie scheint und entsprechend den Gesetzlichkeiten unserer Zeit, geht es auch in dieser Weltregion um nichts anderes als das moderne Zusammenspiel von Technik, Ökonomie und Politik. Technik und Ökonomie, im Verbund wirkend als Finanztechnik, hat die alte Vorstellung politischer Souveränität früherer Tage zurückgedrängt. Es steht nun an, dass dieses Phänomen von den arabischen Massen verstanden und bewertet wird. Facebook dürfte auch hier die Türen öffnen und die Aufklärung über die undemokratische Seite des Kapitalismus wird weiter fortschreiten.
Die offene Frage bleibt die künftige politische Rolle der Muslime. Die „islamischen“ Parteien einen die Muslime dabei weniger, sie spalten. Dieser Vorgang zeigt sich augenblicklich in einer machtvollen Dialektik, also etwa dem Gegensatz der Muslimbruderschaft und den Salafisten, oder den Säkularisten mit dem politischen Islam insgesamt. Natürlich sind alle diese Gruppen auch nach innen wiederum aufgespalten, zerreiben sich weiter zwischen den bekannten Gegensätzen, also liberalen oder konservativen Argumentationsketten.
Insoweit auf „Sand gebaut“ fehlt es dem politischen Islam zumeist an einer einleuchtenden islamisch-rechtlichen Positionierung, die auf die ökonomische Grundnatur der arabischen Probleme eine Antwort findet. Die ökonomische Fundamentalfrage könnte man so formulieren: was tut man, wenn man Ressourcen hat und für diese Ressourcen nur noch Papier bekommt? Allerdings finden sich in den Gazetten der islamisch-politischen Welt kaum Stellungnahmen zu diesem Währungsproblem oder der Rolle der Banken überhaupt, stattdessen finden sich eher bizarre quasi-dogmatische Aussagen jenseits der Prioritäten, die beispielsweise der lächerlichen Frage nachgehen, ob an arabischen Stränden der Bikini oder Burkina Einzug halten soll.
Bei meiner Ankunft in Tripolis wurde ich aus solchen theoretischen Überlegungen herausgerissen. In der Stadt patrouillieren zahlreiche Bewaffnete, die ohne entsprechende Kennzeichnungen nur schwer einzuordnen sind. Es wurde mir sehr schnell klar, dass die Möglichkeit von Chaos und Bürgerkrieg hier noch längere Zeit auf der Tagesordnung stehen werden. Speziell in Libyen ist die Lage kompliziert, ist es doch einigermaßen schwierig, einem Nationalstaat in einem zerklüfteten Stammesland eine Identität zu geben. Die Idee des Nationalstaates, als eine Einheit von Rasse und Territorium, widerspricht den Begebenheiten des Landes zutiefst und muss eine vage Idee bleiben.
Die Muslime erhoffen sich nicht zuletzt auch in Tripolis durch die Bildung politischer Parteien einen gesellschaftlichen Konsens zu erringen. In Tunesien hat die Ennahda Partei diesen steinigen Weg bereits mit einer Regierungsübernahme in einer Koalition abgeschlossen. Unter dem ökonomischen Druck, unter dem das Land steht, wird jede Regierung schnelle Lösungen präsentieren müssen. Auch eine muslimische geprägte Regierung muss jederzeit den Volkszorn fürchten. Das politische Überleben wird besonders in Tunesien schwer, da das Land in einer tiefen Krise steckt und die muslimischen Politiker zudem wenig Regierungserfahrung haben.
Ich hatte Gelegenheit, auf meiner Reise in Tunis die Führung der Partei kennenzulernen und mit Rachid Gannuchi und dem Ministerpräsident Hammadi Jabali zu sprechen. Beide Persönlichkeiten haben mit der ideologischen Verbohrtheit, die zuweilen auch von mir mit der Muslimbruderschaft verbunden wird, wenig gemein. Zweifellos ist insbesondere der neue Ministerpräsident eine charismatische Figur, der jahrelange Haft, Folter und Asyl erstaunlich gelassen weggesteckt hat. Programmatisch will diese Partei eine gesellschaftliche Brücke schlagen und mit einem moderaten Kurs das Land und seine Bevölkerung versöhnen. Aber kann dies unter den ökonomischen Bedingungen gelingen? Auch hier in Tunis zeigt sich ein grundsätzliches Problem des politischen Islam in der arabischen Welt. Es ist nicht gelungen, das islamische Wirtschaftsrecht in unserer Zeit zu deuten und in eine Programmatik zu übersetzen, die dem Land echte ökonomische Alternativen anbieten kann.
Ibn Khaldun, der in Tunis geboren wurde, beschreibt in seiner Lehre, dass eine echte Gruppenidentität in gemeinsamer sozialer und ökonomischer Aktivität wurzelt. Es ist das Dilemma, dass der politische Islam gerade diese Basis nicht schaffen kann, da er die ökonomischen Verhältnisse, die den alten Marktplatz zerstört haben und sich heute in der Präsenz von internationalen Banken und globalen Monopolen zeigen, weder verändern noch reformieren kann. Ökonomisch gesehen ist der politische Islam längst assimiliert, ein Umstand, den auch das Konstrukt einer „islamischen“ Bank nicht verbergen kann.
Wandert man durch die wunderschöne Altstadt von Tunis, kann man den allgegenwärtigen Zusammenhang von kulturellen, ökonomischen und sozialen Einrichtungen studieren, die die islamische Zivilisation ausmachen und keine moderne Partei der Welt wirklich stiften kann. Diese alternative, soziale Marktwirtschaft, die die Basis des islamischen Lebens ist, gibt die eigentliche Richtung vor, für eine aus dem Islam heraus gedachte, modernisierte Alternative zu den Härten des asozialen Kapitalismus. Das bunte Treiben freier Märkte und die Ganzheitlichkeit der islamischen Zivilgesellschaft zwischen Moscheen und Stiftungen war es auch, die den Reiz des Islam für das suchende Europa ausmachte.
Einer dieser Suchenden, Rainer Maria Rilke, schrieb am 21. Dezember 1910, beeindruckt von der Wirklichkeit der islamischen Stadt an seine Schwester Clara:
„Ich bin für einen Tag herübergefahren in die ‚heilige Stadt‘ Kairouan, nächst Mekka der große Pilgerort des Islam, den Sidi Okba, ein Gefährte des Propheten, aufgerichtet hat in den großen Ebenen und der sich aus seinen Zerstörungen immer wieder erhoben hat um die ungeheuere Moschee herum, in der Hunderte von Säulen aus Karthago und allen römischen Küstenkolonien zusammengekommen sind, um die dunklen zedernen Decken zu tragen und die weißen Kuppeln zu unterstützen, die heute so blendend vor den grauen,nur da und dort aufreißenden Himmeln stehn, aus denen der Regen fällt, nach dem man seit drei Tagen geschrieen hat. Wie eine Vision liegt die flache weiße Stadt da in ihren rundzinnigen Wällen, mit nichts als Ebene und Gräbern um sich, wie belagert von ihren Toten, die überall vor den Mauern liegen und sich nicht rühren und immer mehr werden.Wunderbar empfindet man hier die Einfachheit und Lebendigkeit dieser Religion, der Prophet ist wie gestern, und die Stadt ist sein wie ein Reich “
Es bleibt eine offene Frage, ob der arabische Raum seine authentische Eigenständigkeit wieder finden kann und mit den Alternativen, die der Islam birgt, der trostlosen Nivellierung der Kulturen Einhalt gebieten kann.