Wahnsinn (dementia) ist diejenige Störung des Gemüths, da alles, was der Verrückte erzählt, zwar den formalen Gesetzen des Denkens zu der Möglichkeit einer Erfahrung gemäß ist, aber durch falsch dichtende Einbildungskraft selbstgemachte Vorstellungen für Wahrnehmungen gehalten werden. Von der Art sind diejenigen, welche allerwärts Feinde um sich zu haben glauben; die alle Mienen, Worte und sonstige gleichgültige Handlungen Andrer als auf sich abgezielt und als Schlingen betrachten, die ihnen gelegt werden. Diese sind in ihrem unglücklichen Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was Andere unbefangen thun, um es als auf sich angelegt auszudeuten, daß, wenn die Data nur wahr wären, man ihrem Verstande alle Ehre müßte widerfahren lassen.“ (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Absicht § 49)
Das größten Drama und die beste Unterhaltung findet für uns inzwischen im Internet statt. „Wikileaks“ ist eines dieser typischen Internetdramen dieser Zeit. In die allgemeine Datenflut – die später Google für uns effektiv verwalten wird – lassen sich für Freund und Feind zehntausende Datensätze jenseits der alten Ideale der Wahrheitsfindung unterbringen. Die alte Diplomatie zwischen den Welten hat ausgedient. Notwendigerweise eröffnen die „dramatischen“ Vorgänge um öffentliche Denunziationen, Gerüchte und den Tratsch aus der Botschaftskantine einen für das Netz typischen Glaubenskrieg.
Für die einen muss „Wikileaks“ ein weiterer teuflischer Bestandteil einer globalen Verschwörung sein; für die anderen ist Wikileaks ein verklärtes Ritual virtueller Demokratisierung des Planeten. Beide Seiten gründen ihre jeweilige Überzeugungen immer seltener auf den Gesetzen existenzieller Erfahrung. Im Netz herrscht die Macht des Hörensagens, die Beliebigkeit der Assoziation und die Verknüpfung von Vorstellungen und Bildern. So kann künftig jeder nach ein paar Mausklicks nach seiner Facon seelig werden.
Tatsächlich eignet sich das Internet wie kein anderes Medium für schnelle Geschichten um Dichtung und Wahrheit. Glaubenskrieger aller Parteiungen bezichtigen im Schnellfeuermodus den jeweils anderen als „Nazi“, „Islamist“ und „Kommunist“ – gerne auch mit den üblichen Assoziationsketten, die sekundenschnell zu „Hitler, Stalin und Bin Ladin“ führen. Der Preis ist hoch, führt doch die inflationäre Anwendung der Begriffe zur Verwässerung der ursprünglichen Feindbilder.
Was Antifa, Islamisten und Nazis im jeweils paranoiden Vortrag des Öfteren teilen, ist der eigene Duktus „absoluter Gewissheit“. Auch dann mit religiösem Eifer vorgetragen, wenn der Andersdenkende noch nie auch nur in der Nähe einer wirklichen Begegnung, geschweige denn Gegenstand einer vernünftigen Aufklärung war. Der Rechtsweg, der Einspruch, der Widerspruch, genauso wie die Idee der Verständigung, der Gnade und des Kompromisses sind etwas, mit dem Ideologen nichts anfangen können. Nietzsche: „Nicht der Zweifel, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht …“
Gleichzeitig „postet“ die Uni Münster ein anderes Bild unsere Tage. Das Bild der Deutschen über den Islam ist negativ – noch negativer als im restlichen Europa. Detlev Pollack von der Universität Münster präsentiert die Fakten: „Die Unterschiede zwischen Deutschland und den anderen Ländern sind geradezu dramatisch, wenn es um die persönliche Haltung gegenüber Muslimen geht.“ Gleichzeitig wird die wissenschaftliche Untersuchung mit einer Binsenweisheit garniert: Der Grund für die Skepsis ist, dass die meisten Deutschen keine Muslime persönlich kennen.
Aus dieser Not und gegen die Macht der Bilder werden keine amtlichen Stellungnahmen der Verbände helfen, sondern nur die Art von Brückenbau, die zu einer echten Begegnung jenseits der alten Ufer führt. Es sind die Marktplätze, die Teestuben und die offenen Türen in der Nachbarschaft, wo sich Vorstellung und Wahn von echter Erfahrung trennen.