„Hier spricht nicht mehr der kaltherzige Reformprediger, nicht mehr die Galionsfigur einer neoliberalen Offensive. Insofern dokumentiert die Rede auch einen Lernprozess, der mit Opportunismus aber falsch beschrieben wäre.“ („Stuttgarter Zeitung“ )
Die Berliner Reden der Bundespräsidenten sorgen im Frühjahr für einige Aufmerksamkeit, da diese Reden, „abgehoben“ von der Parteipolitik, den Anspruch haben, aktuelle Probleme grundlegend anzugehen. Der merkwürdige Ort der diesjährigen Rede von Bundespräsident Horst Köhler war die Elisabethkirche in Berlin-Mitte, ein heute völlig leerer Schinkel-Bau aus dem 19. Jahrhundert. Hier also musste Köhler die Krise und ihre Folgen strukturell, politisch und moralisch einordnen.
Köhler hatte bei seiner Rede zur Finanzkrise zunächst ein rhetorisches Problem. Als langjähriger Vorsitzender des IMF war er nicht nur passiver Beobachter, sondern einer der verantwortlichen Architekten des globalen Finanzsystems. Geschickt umging Köhler diese offensichtliche Klippe mit dem Hinweis, dass er, die Irrationalität des Finanzsystems vor Augen, an der Aufklärung und Neuausrichtung des IMF gescheitert sei.
Der geläuterte Horst Köhler predigt nun nach seinen neo-liberalen Jahren den Glauben an den „starken Staat“, erzählt und bedauert, jetzt sind wir wieder im Jahr 2009, dass trotz der Warnungen der Wille gefehlt hätte „das Primat der Politik über die Finanzmärkte durchzusetzen“. Im Juni 2002, als Vorsitzender des Internationalen Währungsfonds, klang dies anders: „Wir müssen akzeptieren, dass Übertreibungen und nachfolgende Korrekturen immer ein Teil dieses Prozesses sein werden, wenn wir ein System aufrechterhalten wollen, das auf Freiheit, Marktwirtschaft und Eigenverantwortung aufbaut.“
Insbesondere in Afrika, das dem Bundespräsidenten am Herzen liegt, zeigt sich, neben der Korruptionsanfälligkeit der Regierungen, das Zinsprinzip und die Verschuldungsstrategie in seiner ganzen strukturellen und a-moralischen Negativdynamik. Einige melancholische Sätze des nigerianischen Präsidenten Obasanjo nach dem G-8 Gipfel im Jahr 2000 sprechen Bände:
„Alles was Nigeria bis 1986 geliehen hatte, betrug etwa fünf Milliarden Dollar. Bis heute haben wir sechzehn Milliarden zurückgezahlt. Uns wird aber gesagt, wir seien noch immer 28 Milliarden im Rückstand, wegen der gestiegenen Zinsen. Wenn Sie mich fragen: was ist das größte Übel in der Welt?, so sage ich Ihnen: es ist der Zins und Zinseszins.“
Köhler findet in Berlin, mit einem launischen Beispiel, dennoch seinen Applaus: „Es wäre ein geringeres Risiko gewesen, eine Eisenbahnlinie quer durch Afrika zu bauen, als in eine angesehene New Yorker Investmentbank zu investieren“. Schlußendlich dürfte Köhler aber froh gewesen sein, dass er sich zur Tagespolitik nicht äußern darf und so nicht konkret beantworten muss, wie die Sozialsysteme in einer neuen Welt ohne Wachstum künftig finanziert werden sollen.