Es ist ein grotesk anmutendes Schauspiel. Jahrzehntelang bildet sich vor unseren Augen ein aberwitziges Finanzsystem, vor dem uns viele Experten und wenige Politiker gewarnt haben. Erst jetzt gibt Finanzminister Steinbrück zu, was Sache ist. Sein Offenbarungseid ist schlicht, „unser Finanzsystem kann jederzeit zusammenbrechen“, und „die Politik hat keine Kontrolle“, heißt es jetzt vom kleinlauten Finanzminister.
Die Politik versucht, angesichts der Krise „überrascht“ zu wirken. Fakt ist aber, viele in den komplizierten Finanzfragen überforderte Abgeordnete hatten ihre Kontrollfunktion längst aufgegeben. Die Hauptstadt war nicht umsonst jahrelang von tausenden Finanz-Lobbyisten belagert worden. Die Aufgabe des Primats des Politischen, das die politische Landschaft der letzten Jahre in Berlin bestimmte, zeitigt nun dramatische Konsequenzen.
Wie Dominosteine reißt der Finanztsunami auch die anderen Pfeiler der Marktwirtschaft in die Tiefe. Inzwischen wird mehr an Montagen gebetet als an Sonntagen. Die Angst wird wieder einmal als politisches Mittel geschürt. So bejammert DER SPIEGEL, selbst berühmtes Opfer neoliberaler Umerziehung, dass die Aktienkurse auf den tiefsten Stand seit 2003 gesunken seien. “Na und?”, möchte man sagen. Ist so etwas nicht völlig normal in der vielbesungenen Marktwirtschaft?
Tatsächlich hat sich ein ökonomisches Modell etabliert, dessen eigentliche geistige Grundlage jedem Gläubigen – übrigens unabhängig von der Konfession – aufstoßen müsste. Es ist die unhaltbare Doktrin ewigen Wachstums. Dieses Prinzip, nach Ezra Pound „contra naturum“, ist der tiefere Denkfehler eines Systems, das, wenn auch im negativen Sinnne, de facto die eigentliche „Weltherrschaft“ erreicht hat.
Wir benutzen das Attribut “negativ” mit Nachdruck, weil das global verknüpfte, asoziale Finanznetz längst den gesamten Planeten in ärgste Mitleidenschaft gezogen hat. Man darf auch, bei aller verständlichen Sorge um unsere eigene Zukunft, nicht ganz ausblenden, dass sich Millionen unterpriveligierter Menschen nach dem Ende genau dieses Systems sehnen. Nach jahrelanger Arroganz gegenüber dem weltweiten Leid wird den Europäern klar, dass die romantische Zeit des ewigen Wirtschaftswachstums auf Schuldenbasis vorbei ist.
Neben den trüben Aussichten werden endlich grundsätzliche Fragen nach den Hintergründen der Krise gestellt. Was sind die Alternativen: Sozialismus, Weltstaat, Reformen oder gar die allgemeine Verstaatlichung? Urteilen heißt unterscheiden können. Zunächst bedarf es einer neuen Aufklärung über das Wirtschaftssystem, in dem wir leben. Insbesondere Jugendliche sollten schnellstens begreifen, dass Schulden machen nicht “cool” ist.
Was heißt es, wenn Staaten Banken werden? Wie konnten die Banken überhaupt Geld aus dem Nichts schaffen? Wie wurde der Markt zugunsten der monopolisierten Distribution abgeschafft? Wie funktionieren Supermärkte? Es ist dieses Einmaleins der Neuzeit, das wir als denkende BürgerInnen besser verstehen müssen.
In der klassischen Bildung des Islam kannte jeder Muslim die wichtigsten Grundregeln der Ökonomie auswendig. Wir haben uns ablenken lassen. Als Muslime in dieser Zeit müssen wir wieder lernen, Prioritäten zu erkennen und Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden. Es ist zweifellos nötig, auch wieder unsere Rechtsbücher aufschlagen und zu studieren, was unsere Positionen zu den ökonomischen Grundfragen sind.
Wir müssen es übrigens selbst tun, weil wir es bis heute nirgendwo, auch in keiner Moschee, hören können. Wie schon bei der Frage nach dem “Terrorismus” (Selbstmordattentate), haben unsere Gelehrten zunächst keine konkrete Antworten zu den Fragen der Finanzkrise (Zinsnahme) parat. Wie lange wird es diesmal dauern?
Es spielt hier keine Rolle, ob man glaubt oder nicht: in Krisenzeiten sitzen alle in einem Boot. Angst haben alle, die Frage ist nur: vor was? Die Muslime erinnern sich in diesen Tagen an Warnungen, die ihnen vor Jahrhunderten offenbart worden sind. Der Publizist Aiman Mazyek erinnert auf dem TV-Blog „So Gesehen“ an entsprechende Verse und an eindeutige Aussagen gegen das Unwesen der Zinsnahme. Das ist nicht nur eine Meinung eines bekannten Autors, sondern der Beweis, dass ein fundamentaler Perspektivwandel die Muslime erreicht hat.
Nicht nur Aristoteles sieht in seiner Politea den Zins als das Grundübel des Gemeinwesens, auch Europas Christen und Juden hatten jahrhundetelang den Zins abgelehnt. Nun fragen sich viele Muslime, warum diese wichtigen Offenbarungen in unseren Debatten der letzten Jahre praktisch keine Rolle gespielt haben. Jetzt ist die Zeit dafür, nach dem uns der wirre, abgründige und zynische Terrorismus in unserem Verstehen dieses Jahrhunderts um Jahre zurückgeworfen hat.
Nicht nur wir Muslime wissen es: der Zusammenhang zwischen wundersamer Geldvermehrung und der Zerstörung des Planeten ist evident. Ohne die uferlose Geldwirtschaft könnten weder Meere verschmutzt werden, noch der riesenhafte Militärapparat funktionieren. Was aber praktisch tun, angesichts des drohenden Finanzkollapses? Wir Muslime glauben fest an mögliche Alternativen zur Zinswirtschaft. Der große Gelehrte Rumi hat einst erklärt: „Was Halal ist, ist möglich“. „Der Heuchler“, so fügte Rumi hinzu, „behauptet, was Halal ist, ist unmöglich“. Jeder und jede kann mit der Halal-Wirtschaft anfangen.
Privates Eigentum, ökonomischer Erfolg und Handel gehören durchaus zu unserer Ökonomie. Aber, wer einen Überschuß hat, hat auch eine Verpflichtung. Wir beklagen heute zu Recht die Vernachlässigung einer der Säulen des Islam: die Zakat. Diese Verplichtung im Islam sichert die bedeutsame Solidarität der Reichen mit den Armen. Die Zakat – nicht etwa seine ethnische Zugehorigkeit – verknüpft den Einzelnen mit seiner Gemeinschaft oder seinem Verband. Bezeichnenderweise kann man übrigens die Zakat nicht mit Papiergeld entrichten. Was sagt insofern schon ein Kopftuch oder ein Bart aus, wenn man gleichzeitig keine Zakat entrichtet?
Viele Muslime sehen in einem „Islamischen Bankensystem“ eine Alternative zum jetzigen zügellosen Kapitalismus. Andere sehen darin ein Paradox, so wie es ein “Islamischer Whisky“ wäre. Wie auch Nicht-Muslime eingestehen, so beispielweise die italienische Jouralistin Napoleoni, hat diese ökonomische Struktur zumindest eine Grenzlinie gegenüber der „Schurkenwirtschaft“ gezogen. Islamische Banken investieren immerhin nicht in Prostitution, Drogen, Lotterie oder in Glücksspiele. Soweit so gut, nur: sind Börsen, an denen das “Islamische” Banking stattfindet, nicht generell windige „Casinos“?
Natürliche haben auch die Anleger islamischer Banken den letzten Jahren – vor allem in den sauberen Technikfonds – gigantische Summen verloren. Aber das eigentliche Problem der islamischen Banken und ihrer fragwürdigen „Halal-Konstruktionen“ ist heute evident. Sie benutzen das gleiche inflationäre Phantasie-Geld wie alle anderen Banken auch. So werden ihre Kunden – ob sie wollen oder nicht – in das internationale Schuldensystem eingebunden. Islamische Banken mögen moralischer sein als andere Banken, systematisch sind sie ebenso fragwürdig.
Es fällt auf, dass es – angesichts der Krise und dem Versagen der Politik, kaum neue politische Forderungen der Europäer gibt. Eine naheliegende Forderung könnt,e man von einer Definition des berühmten Rechtsgelehrten Imam Malik ableiten. „Geld“ so Imam Malik „ist jedes Tauschobjekt, das allgemein akzeptiert wird“. Es ist also ein Gebot der politischen Freiheit, zudem ein Zeichen der Vernunft und der Fürsorge, andersartige, lokale Geldkreisläufe zu etablieren. Wäre das, angesichts der Gefahren eines kollabierenden Finanzsystems, nicht auch die adäquate Vorbereitung auf dramatischere Krisenzeiten?
Naheliegend wäre, wie alle Jahrhunderte zuvor, die gewohnte Nutzung von Gold und Silber. Gold kann nicht endlos dupliziert werden. Das Problem der entfesselten Finanzwirtschaft beginnt – wie man heute weiß – mit der Aufgabe der Golddeckung der westlichen Währungen. Gold- und Silbermünzen sind aber bisher, auch aus steuerrechtlichen Gründen, schwer in Umlauf zu bringen. Goldmünzen werden heute mit Mehrwertsteuer belegt und sind daher relativ „unpraktisch“, werden bestenfalls gehortet statt ausgegeben. Lokale Geldkreisläufe sind jedoch ein adäquates Mittel, um sich von den Banken zu emanzipieren. Warum werden hier die Märkte und ihre Abläufe nicht liberalisiert?
Eine andere Rolle sollten auch die Moscheen spielen. Ihre soziale Bedeutung wird weiter wachsen. Gerade in Krisenzeiten ist aber das wachsende Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den als Außenseitern empfundenen Muslimen gefährlich. Moscheen sollten daher weder architektonisch fremd oder unzugänglich wirken, noch als Trutzburgen von “Ausländern” wahrgenommen werden. Tatsächlich sind viele große Moscheen im Grunde Fehlkonstruktionen. Jahrhundertelang waren Moscheen nicht nur sakrale Gebäude, sondern offene Anlagen mit sozialem Dienstleistungscharakter.
Viele große Moscheen vermitteln aber weder diese Offenheit, noch verkörpern sie ein soziales Angebot an die umliegende Bevölkerung. Ohne Platz für Aktivitäten von Frauen und Familien wirken auch die imposantesten Moscheegebäude trist. Organisationen, die hinter den Moscheen stehen und sich im Prinzip auf ethnische Abgenzung berufen, dürfen sich nicht wundern, wenn auch die Umgebung sich auf ihre eigene ethnische Identität beruft.
Der Markt ist und bleibt die Brücke der Moschee zur unmittelbaren Umgebung. Der Markt ist der einzige Ort, an dem eine multikulturelle Gesellschaft nicht nur eine Utopie, sondern auch eine praktische Erfahrung ist. Für Muslime ist es ein zentrales Anliegen, der Aufforderung des Schöpfers, „der Handel ist erlaubt“ (2:274), nachzukommen.
Die Wiederbelebung einer echten Martktwirtschaft und die Ächtung der seelenlosen Supermärkte ist eine zentrale Vision dieses Jahrzehntes. Warum nur für Muslime? Europa hat das offenbarte Grundprinzip des Wirtschaftens und Maßhaltens leider umgekehrt: der Handel wurde verboten, die Zinsnahme erlaubt!
Idealerweise bilden sich um unsere Märkte Genossenschaften, die auch die lokale Halal-Produktion ernst nehmen und als eine praktische Philosophie, mit der Schöpfung umzugehen, in die Debatte einführen. Kurzum, es wird Zeit, dass wir Muslime uns von den verstaubten Debatten vergangener Tage lösen und einbringen, was wir an Relevantem zur Verfügung haben.
Wir, insbesondere auch unsere dem Gemeinwohl verpflichteten Stiftungen, müssen mithelfen, die Krise zu meistern und als eine Chance zu begreifen. Das größte Kapital, dass wir haben, sind unsere Menschen, ist unsere Fähigkeit, uns in aktiven Gemeinschaften zusammenzuschließen. Diese Gemeinschaften müssen beginnen, nicht nur zu fordern, sondern auch etwas anzubieten. Die Hand die gibt ist besser als die Hand die nimmt.
Was tun? In Stichworten: 1) Aufklärung über die Finanzinstrumente des 21. Jahrhunderts 2) Studium der islamischen Finanz- und Halalwirtschaft 3) Markt und Handel als Brücken zur Mehrheitsgesellschaft einrichten 4) Moschee – mehr als nur ein sakrales Gebäude 5) Lokale Geldkreisläufe fordern 6) Halal-Versorgung: Kooperativen und Genossenschaften in Europa gründen 7) Zakat – keine Almosen, sondern eine Verpflichtung für jeden Muslim