Liegt die Antwort im Westen selbst….Nachdenkliches über diese Frage von Nevad Kermani in der Süddeutsche Zeitung vom 5. August 2005:
Die Idee des religiösen Martyriums, die für den Mehrheitsislam der Sunniten bis vor zwei Jahrzehnten kaum eine Rolle spielte, ist mit Predigern wie Tamim al-Adnani in den Westen gekommen. In den achtziger Jahren reiste er durch die Vereinigten Staaten, um Freiwillige für den Afghanistankrieg zu gewinnen. Dabei sah al-Adnani nicht eben wie ein Kämpfer aus: Er war klein und äußerst dick, und wenn er sich für seine englischen Vorträge in die Kluft des afghanischen Freischärlers schwang, muß das eher komisch ausgesehen haben. Al-Adnani war mit Osama bin Laden befreundet und die rechte Hand von dessen Mentor Abdullah Azzam. Die himmlische Belohnung, die er seinen Zuhörern versprach, zeugte von männlichen Verklemmungen, die sich in pornographischen Phantasien entladen; so schwärmte er seinen Zuhörern von den jungen Mädchen, die sich nach jedem Geschlechtsakt in Jungfrauen zurückverwandelten und ähnliches mehr. Al-Adnani selbst fand allerdings keinen Weg in die Gärten der Märtyrer: Er starb 1990 in Orlando an einem Herzschlag – beim Besuch von Disney World.
Die Szene könnte bezeichnender nicht sein: Ausgerechnet der Mann, der wie kaum ein anderer dafür verantwortlich dafür ist, den Märtyrerkult unter sunnitischen Muslimen im Westen verbreitet zu haben, starb in Disney World. Erinnert sei auch an die Biographien der Führer von al-Qaida, sei es bin Laden, al-Zawaheri oder al-Zarqawi: Durchweg haben sie durchweg moderne Biographien aus säkularen Mittel- und Oberschichten. Osama bin Laden zum Beispiel besuchte die gleiche Schule wie Omar Sharif und trieb sich vor seiner religiös-politischen Berufung im Nachtleben von Beirut und Kairo herum. Auf bizarre Weise wird der Typus des radikalen Konvertiten verkörpert von Abu Hamza, dem radikalen Prediger in Groß-Britannien, der so furchterregend aussieht, weil er statt der Hand einen Eisenhaken trägt wie früher die Piraten im Film. Vor ein paar Jahren arbeitete Abu Hamza noch als Türsteher in einem Londoner Bordell.
Nach den Terroranschlägen von London wird auch in Deutschland wieder viel von gescheiterter Integration gesprochen, von türkischen Ghettos in Neu-Köln oder Köln-Mülheim, von Sprachkursen und Überwachung der Moscheen. Die Warnungen vor Parallelgesellschaften und Aufrufe zur Leitkultur, mögen berechtigt sein oder nicht – aber hat das etwas mit dem Terror zu tun in London, mit dem Mord an Theo van Gogh oder den Anschlägen des 11. Septembers 2001? Nein. Und zwar nicht nur, weil die Türken, um die es in der deutschen Debatte geht, bislang überhaupt nicht in solchen religiösen Terrorismus verwickelt sind. Es wäre hilfreich, wenn das einer unserer Politiker einmal erwähnte, statt ständig die Gefahr vor unserer Haustür zu beschwören, als deren Repräsentant dann der türkische Imam, der Halbstarke in seinem schwarzen BMW oder der Gemüsehändler nebenan herhalten muß. Die deutsche Integrationsdebatte zielt aber auch an denjenigen Attentätern vorbei, die in Deutschland lebten, bevor sie sich in lebende Bomben verwandelten, nämliche die Gruppe um den Hamburger Todespiloten Mohammad Atta. Sie sind gerade nicht in den fremdsprachigen Enklaven Deutschlands aufgewachsen, haben die Nachmittage ihrer Jugend nicht in den Hinterhof-Koranschulen verbracht, ja sie schienen Modellfälle einer gelungenen Integration abzugeben, intelligent, erfolgreich, von hoher sozialer und kultureller Kompetenz. Sie wiesen durchweg gute Zeugnisse auf, dachten über Ökologie, Stadtentwicklung oder die Sanierung historischer Altstädte nach, drehten sich zur Entspannung auch mal einen Joint und pilgerten am Wochenende nicht in die Moschee, sondern zum FC St. Pauli ins Stadion am Millerntor.
So erklärt sich, warum viele ihrer Eltern oder Freunde abstritten, ja in gewisser Weise abstreiten mußten, daß ihre Kinder in einen islamistischen Terroranschlag verwickelt sein könnten. Wenn sich in Palästina ein junger Mann, eine junge Frau in die Luft sprengt, um möglichst viele Israelis zu töten, sind die Eltern keineswegs immer selig, wie es westliche Journalisten darstellen, aber Verwunderung, ja Leugnung der Tat gehört nicht zu den Reaktionen, die von den von Hinterbliebenen bezeugt sind. Den Anschlägen liegt stets eine biographische, soziale und politische Logik der Verzweiflung, der Demütigung, des nationalen Kampfes zugrunde, die man pervers, aber nicht hermetisch finden mag, wenn selbst der ehemalige israelische Verteidigungsminister Benjamin Ben-Eliezer nach Gesprächen mit verhinderten Selbstmordattentätern Verständnis für deren subjektiven Beweggründe und Lebensläufe äußert.
Nach dem 11. September 2001 genauso wie nach den Anschlägen in Madrid, Amsterdam und London hingegen zeigten nicht nur die Reaktionen der westlichen Öffentlichkeit, sondern auch die Interviews mit Angehörigen, Lehrern oder Vermietern der Attentäter vor allem eins: Unverständnis. Er sei doch so liebenswürdig gewesen, so voller Idealismus, heißt es auch jetzt immer wieder, und am Wochenende sei er in die Disko gegangen, er habe eine Freundin gehabt, Alkohol getrunken – ihr Sohn, ihr Schüler, ihr Mieter ein islamistischer Terrorist? Ausgeschlossen! „Auffällig war nur seine Unauffälligkeit“, „Atta war so weich“, „Lieb, nett und niemals böse,“ so überschrieb Der Spiegel die drei Artikel, die nach dem 11. September das Profil der Attentäter zeichneten: „Ausgerechnet Menschlichkeit ist das Wort, das immer wieder fällt, wenn ehemalige Kommilitonen über den Studenten Atta sprechen“, wunderte sich ein Reporter des Stern. Während die meisten ihrer Eltern bis heute an eine Verschwörung glauben, zeigten sich die deutschen Bekannten von Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi oder Ziyad Samih Jarrah zumindest fassungslos, bar jeder Erklärung: Das könne doch einfach nicht sein.
Es kann sein, es kann sogar sehr gut sein: Der spezifische Terror des 11. Septembers, der sich in Madrid, Amsterdam und London fortsetzte, beginnt erst dann ein Bild zu ergeben, wenn man auch diese Teile in das Puzzle einfügt: den Idealismus, die Liebenswürdigkeit und die Integration in die westliche Gesellschaft, die Freundin, der Joint und die Disko. Das war keine „perfekte Tarnung“, wie immer wieder behauptet wird. Das war ihr Leben. Sämtliche Attentäter von New York, Amsterdam und London verfügen über moderne, städtische Biographien aus den wohlhabenden Ständen ihrer Heimatländer, einem schmalen Segment arabischer Gesellschaften, wenn sie nicht ohnehin im Westen aufgewachsen sind. Eine Ausnahme bilden die Bombenleger von Madrid, die sich als Illegale zumeist mit Kleinkriminalität und Drogengeschäften über Wasser hielten. Aber eine orthodox-islamische Vorprägung hatten auch sie nicht.
Sie alle scheinen sich an einem bestimmten Punkt ihres Lebens und ohne ihren bisherigen Alltag deswegen aufzugeben, einem religiösen Milieu zugewandt zu haben, das sich tatsächlich von westlichen Einflüssen abzuschotten trachtet. Sie sind nicht aus diesem Milieu hervorgekommen, sondern haben es für sich entdeckt und sind von dort in eine sektenartig strukturierte, extremistische Gruppierung geraten, nicht anders als die Briten, Deutschen oder Amerikaner, die während des Afghanistan-Krieges plötzlich in den Reihen der gefangenen al-Qaida-Kämpfer auftauchten. Die Gesinnung, auf die sie durch eine einschneidende Erfahrung oder Bekanntschaft gestoßen sind, scheint rückwärtsgewandt, gar archaisch zu sein. Aber die Entstehung diese Gesinnung, die bei keinem der Attentäter etwas mit dem Islam ihrer Eltern zu tun hat, dieser Zugriff auf eine konstruierte und radikalisierte Vergangenheit ist durch und durch modern.
Als wenige Tage nach dem 11. September ein Schweizer Bürger zunächst Abgeordnete des Kantonalparlaments von Zug und anschließend sich selbst umbrachte, war man erleichtert, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun zu haben schien. So gänzlich unverwandt sind beide Anschläge jedoch nicht. Der Amoktäter ist ein Mensch von heute, nicht bloß, wenn er als Einzelgänger auftritt. Durch eine einzige, unbedingt öffentliche Tat gewinnt er ein Surrogat für das, was einer modernen Gesellschaft beinah per definitionem fehlt: ein umfassender Sinnzusammenhang, der dem Individuum seinen Platz zuweist. Wie viele Studien über Amokläufe bezeugen, steht vor der Tat eine Phase des Rückzugs, der Abschottung, der subjektiv empfundenen Ablehnung oder bewußten Isolation, selbst wenn die bürgerliche Existenz formell aufrechterhalten wird. Aus diesem Leerraum, in dem das Individuum sich als passiv, anonym und vollständig auf sich selbst gestellt erlebt, schießt oder bombt es sich in einer feuerwerkartigen Selbstinszenierung Bedeutung herbei. Der Amoktäter wird für ein paar Sekunden zum totalen Handelnden, zum Rächer eines überstark empfundenen Unrechtes, das wiedergutzumachen ihm seine Persönlichkeit oder die äußeren Umstände keine Möglichkeit gegeben haben. Dank seiner logistischen Überlegenheit ist seine Macht absolut, ist er Drehbuchautor, Regisseur und Dramaturg einer Aufführung, die ihn, endlich einmal ihn als Hauptdarsteller vorsieht. Aus der Nichtigkeit schwingt der Amoktäter sich auf zum Gott.
Wie sinnlos auch immer sein Handeln von außen erscheint, so gewinnt der Amoktäter doch gerade aus der Zerstörung ein Ultimum von Sinn. Das abstrakte Gegenüber – der Staat, das Rathaus, die Lehrer, das Böse – wird für einen Augenblick faßbar in denen, auf die er seine Waffe richtet. Man will sich nicht ausmalen, wie viel stärker die Injektion von Sinn, Öffentlichkeit und Macht bei jenen ist, die sich in der temporären Abgeschlossenheit von politischen Sekten gegenseitig bestärkt und in eine verführerisch kohärente, religiöse Überzeugung fallen gelassen haben. Wie viel größer ist der Kitzel, wenn das Unrecht, das sie zu bestrafen oder wenigstens zu bezeichnen meinen, nicht bloß individuell erlitten ist, sondern sich als die Unterdrückung eines Milliardenkollektivs darstellt, dessen Passivität sie aufheben, aus dessen Anonymität sie eben durch die Selbstvernichtung heraustreten. Wir werden den Terror des 11. Septembers, den Mord an Theo van Gogh, die Anschläge in London nicht begreifen, solange wir eine Debatte führen, die kaum etwas damit zu tun hat. Mit Sprachkursen und der Überwachung von Moscheen ist diesem Terror nicht beizukommen. Zu fragen wäre eher, warum ausgerechnet junge, gut ausgebildete, sozial engagierte und von ihrer Umwelt als freundlich beschriebene Menschen einen solchen Haß entwickelten gegen den Westen – und damit gegen die Gesellschaft, der sie selbst angehörten. Zu fragen wäre, warum sie aufgehört haben, sich zu dieser Gesellschaft zugehörig zu fühlen. Die Antwort ist nicht einfach im Koran nachzulesen oder im Nahost-Konflikt zu finden. Sie liegt auch im Westen selbst.