(iz). Im Grunde ist es ein gigantischer Feldversuch: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht der moderne Mensch einer global vernetzten Finanz- und Sicherheitstechnik gegenüber. Die allgemeinen Konsequenzen für die Idee menschlicher Souveränität und das neue Verhältnis Staat-Bürger sind im Rahmen globaler Machtverschiebungen noch kaum absehbar. Es stellt sich erneut die Frage nach der Beherrschbarkeit des Apparates und der Möglichkeit von Reform und Mäßigung seiner Systeme. In der Frage nach der Macht der Technik stehen sich positivistische und kritische Haltungen gegenüber, die Emotionen reichen von religiös anmutender Bejahung bis hin zur fanatischen Ablehnung.
Fest steht: Jede Zeit hat ihre Prüfungen. Die elementare Frage nach der Freiheit des Menschen stellt sich im Grunde in jedem Jahrhundert wieder neu. „Die Sklaverei lässt sich bedeutend steigern, indem man ihr den Anschein der Freiheit gewährt“, mahnte schon Ernst Jünger, sich nicht allein durch Rhetorik blenden zu lassen. Nötig ist vielmehr immer wieder eine kritische Analyse moderner Lebensbedingungen. Der Fall Snowden und die Aufdeckung der PRISM-Affäre gibt hierzu wieder Anlass. Wie geht man mit diesem Mann, und seinen ungewöhnlichen Veröffentlichungen um?
Nicht wenige sind bereits über den misslungenen Praxistest der Bürger- und Menschenrechtspolitik der freien Welt desillusioniert. Für diese Bürgerrechtsbewegung ist Snowden schlicht ein moderner Held. Die gleiche Politik, die – schon aus historischen Gründen – über Jahrzehnte Zivilcourage als Kern der demokratischen Lehre angemahnt hat, weicht heute, zumindest nach dieser Ansicht, dem realen Praxistest rund um das Phänomen Snowden aus.
Es ist schon etwas dran: In dem Maß, wie sich die Rhetorik um Demokratie und Freiheit steigert, fehlt es heute an einer deutschen Menschenrechtspolitik, die auch mit konkreten Beispielen zeigt, dass sie bereit ist, für Bürgerrechte energisch einzutreten. Die ethische Folge des Nichthandelns unserer Repräsentanten ist der allgemeine Fatalismus. Ein Asyl für Snowden wäre dagegen eine Chance für eine freiheitliche Politik gewesen, aber, nicht nur wir, sondern kein Land in Europa war für diesen Schritt souverän, man könnte auch sagen, „frei” genug.
So fühlen sich viele Bürger mit ihrer Empörung über drohende, kafkaesk anmutende Verhältnisse in einem globalen Überwachungsstaat allein gelassen. Nur noch wenige Verschwörungstheoretiker glauben überhaupt noch, dass sie nicht überwacht werden. Am letzten Wochenende demonstrierten 10.000 Menschen in etwa 40 Städten unter dem Motto „Stop Watching Us”. Auch im Internet ist die Empörung groß und gleich mehrere hundert kluge Beiträge richten sich generell gegen die anlasslose und verdachtsunabhängige Massenüberwachung. Programme wie PRISM und Tempora stehen längst für eine andere Art Staat, der seine Bürger mit der allgegenwärtigen, oft unverhältnismäßigen Angst über den Terror immer gefügiger machen will. „Die Bundesregierung verteidigt unsere Freiheit zwar am Hindukusch, aber nicht auf unseren Laptops” las man in einem bissigen Kommentar auf der regierungskritischen Seite „Netzpolitik”.
Der ehemalige Innenminister Schily, in dessen „glorreiche” Amtszeit die Entstehung der rechten Terrorgruppe NSU fällt, spricht sogar von einer „Paranoia” der Bevölkerung und missachtet damit auf beispielhafte Weise die berechtigte Angst vor einer Parallelgesellschaft der Geheimdienste.
In der Person der Bundeskanzlerin zeigt sich aber das ganze Dilemma. Für Angela Merkel, die aktuell die politische Verantwortung trägt, ist das Thema bekanntermaßen Neuland. Sie gibt sich naiv, weiß angeblich von nichts und erschreckt vor allem mit ihrer kühlen Haltung der „Nicht-Zuständigkeit”, als agierten ihre Dienste auf einem anderen Planeten. Sogar der ehemalige Chef des BND, Hans Jörg Geiger, bezweifelte in der FAZ die demonstrative Unwissenheit und das Dementi der Kanzlerin. Nötig wäre nach dem Insider Geiger ein „Intelligence Codex”, der ausländische Geheimdienste zwingt, deutsches Recht zu beachten. Wie solche Forderungen aktiv gegen den „big brother” durchgesetzt werden können, dazu schweigt die Regierung allerdings bis heute.
Die Schriftstellerin und Datenschutzexpertin Juli Zeh wirft der Politik im Interview mit dem Donaukurier sogar Kalkül vor: „Deutschland kommt auf diese Weise an Informationen, die aus verfassungsrechtlichen Gründen hier nicht erhoben werden können.“ 32 Kollegen der Schriftstellerin gehen in einem offenen Brief noch einen Schritt weiter: „Berlin umgehe den Rechtsstaat, statt ihn zu verteidigen”. Während unsere Außenpolitik gerne über demokratische Prinzipien doziert, fehlt es im Innern an überzeugenden Antworten auf die Herausforderungen an eine „Demokratie” im Wandel der Zeit.
Fakt ist, das Problem der Überwachung existiert und – das ist die eigentliche verstörende Nachricht – neben der Finanztechnik erscheint mit dem Themenfeld „Sicherheit” gleich ein zweites wichtiges Feld, dass demokratische Verhältnisse in Frage stellt und in der gleichzeitig die nationale Politik hoffnungslos überfordert wirkt.
Das ist kein Wunder. Im Bereich der „Sicherheit“ agieren heute nicht nur der öffentliche und private Verfassungsschutz; auch zahlreiche Geheimdienste mit ideellen und kommerziellen Einbindungen bilden ein schwer zu durchdringendes Geflecht. Unternehmen wie Google oder Facebook sind selbst potentielle „private” Geheimdienste. Die ungeheure Zahl der offiziellen, inoffiziellen und industriellen Sicherheitsmitarbeiter wächst jedes Jahr stetig an. Der Bundesinnenminister wirkt bei der „Überwachung“ nationaler und internationaler Geheimdienste wie ein Mann, der – mit einer Taschenlampe ausgerüstet – bei tiefer Dunkelheit einen Dschungel ausleuchten soll. Darüber hinaus beschränken auch offizielle Regelungen wie die G10-Vereinbarungen mit den USA seinen Wirkungsbereich.
Mit dem Begriff des „Supergrundrechtes“ Sicherheit, den Friedrich einführte, zeigt sich nicht nur eine gewisse Hilflosigkeit, sondern auch die Philosophie des Ministers. Er setzt mit dieser Art der Wertphilosophie einen Begriff nicht zufällig absolut, sondern um ihn gegenüber anderen Werten – notfalls auch illegal –durchsetzen zu können. Das Recht selbst wird so bei der Terrorbekämpfung zu einer untergeordneten Größe. Für diese „Tyrannei der Werte“ gilt die blinde Drohne, die ebenfalls auf der Logik des Ausnahmerechtes beruht und den Gegner unterschiedslos eliminiert – als äußeres Symbol. Für viele Bürger, die sich innerlich aus der Politik verabschiedet haben und als „Otto-Normal-Verbraucher” keinen Anlass zur Sorge sehen, mag dies alles kein Problem sein. Die Folgen der Sicherheitspolitik für das gesellschaftliche Klima sind aber dennoch kaum zu übersehen und werden gerade auch im Rahmen der sensiblen Minderheitenpolitk immer spürbarer.
Vergessen wir nicht, die Mathematik der Sicherheitsüberwachung hat eine eigene Logik. Auch wenn niemand in Deutschland einen Terroranschlag im Sinn hat, wird jedes technische Verfahren dennoch immer neue, tausende Verdächtige produzieren. Es wird natürlich bedauerliche Fehler geben. Man spricht in Fachkreisen davon, dass auf einen real Verdächtigen tausende Unschuldige ins Visier geraten. So weit so gut – oder besser schlecht. Hier ist allerdings eine Frage berechtigt, die kaum in der Öffentlichkeit gestellt wird: Welche Bevölkerungsgruppe wird hier eigentlich in erster Linie betroffen sein?
Uns Muslimen, die wir immer wieder schnell mit unbestimmten Begriffen wie „Islamisten“ oder „Moscheebesucher“ markiert werden und zudem gerne mit einschlägigen Assoziationsketten verknüpft werden, ist die Gefahr durchaus bewusst. Mit Sorge beobachten auch wir bereits „technische” Berichte der VS-Behörden, die weniger über Gefahren aufklären wollen, sondern Muslime grob mit Begriffen wie „Terror” assoziieren und so bereits auf Suchmaschinen und Datenbanken ausgerichtet erscheinen.
Mit Sorge lesen Muslime, parallel zu den „akademischen“ Debatten der Mehrheitsgesellschaft über die Folgen des Überwachungsstaates, konkrete Berichte, die uns in den Medien aufklären, dass gefährliche Terrorgruppen auch immer wieder von den Diensten unterwandert werden, die Behörden also, die gleichzeitig nach verfeinerter Überwachung rufen. Das Klima hat sich übrigens schon verändert. Viele Muslime lernen bereits mit Sorgfalt eine immer defensivere Sprache der politischen Korrektheit; nur aus Angst, sie könnten in irgendein Raster fallen. Es ist also gut und wichtig, Herrn Snowden sei Dank, dass eine breite Debatte über die Befugnisse von Sicherheitsbehörden in Deutschland entsteht.
Heute sind alte Männer im Ruhestand, Humoristen und Künstler diejenigen, die oft der Wahrheit ohne die Verbindlichkeiten der Taktik eine Stimme geben. Schon 2009 ist mir der Performance-Künstler Christoph Faulhaber mit einer ungewöhnlichen, aber zum Thema ungemein passenden Performance aufgefallen. Ausgerüstet mit einer Haushaltsleiter begab er sich an den Zaun der BND-Baustelle in Berlin und warf einen Blick auf die andere Seite. Faulhaber filmte sogar mit seinem Handy! Ungeheuerlich! Aufgeregte Wachmänner stellten ihn nach wenigen Sekunden zur Rede, die Polizei wurde gerufen, er wurde registriert, abgeführt, verhaftet, durchsucht. Das Problem bei der „Bewertung” der Aktion kam den Verantwortlichen erst viel später: Es gibt kein deutsches Gesetz, dass sein Verhalten verbietet…
Erschienen am 31.07.2013 in der Islamischen Zeitung.