Eine Zeitenwende für die Bedeutung der Religionen und des Humanismus zeichnet sich ab.
Über Generationen leitete der Mensch seine Stellung und den Sinn seiner Existenz von der göttlichen Offenbarung oder einem kosmischen Plan ab. In der Tiefe drehte sich die natürliche Wirklichkeitserfahrung um metaphysische Gewissheiten. Der Philosoph Friedrich Nietzsche fasste, im 19. Jahrhundert, die moderne Kehre zu einer neuen geistigen Ordnung in einem kurzen Satz zusammen: Gott ist tot.
Der Denker war sich der Folgen der menschlichen Machtübernahme bewusst: Künftig würden Wahrheiten erschaffen werden, die allein den Gesetzen des Willens zur Macht unterliegen. Die Möglichkeit der Etablierung neuer Ideologien und Heilslehren nahm er damit vorweg. Im 21. Jahrhundert gilt Nietzsche noch immer als aktuell, vielleicht auch, weil der Prozess der Säkularisierung bis heute nicht wirklich abgeschlossen ist.
Zeitenwende der organisierten Religion
Ein Beleg für diesen Umstand zeigt sich im Zustand des organisierten Christentums. 2022 sind insgesamt rund 520.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten – so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Vergleich mit dem Vorjahr belegt eine Steigerung um knapp 45 Prozent binnen nur eines Jahres. „Wir befinden uns in einem Prozess der Säkularisierung“, kommentiert ein Kirchenvertreter den Trend.
Fakt ist, die Institution der Kirche, die den Anspruch hat, die Deutungshoheit der Religion zu bestimmen, hat in den letzten Jahrzehnten massiv an Einfluss verloren. Es ist nicht der Glaube an sich, der abnimmt, eher die Bindungskraft der Konfessionen. Aber man darf sich nicht täuschen, christliche Metaphysik und Moralvorstellungen, bis hin zur Idee der Weltbeherrschung, prägen nach wie vor das Leben von Millionen von Menschen.
Der Psychotherapeut Malte Nelles knüpft in seiner Analyse über die massenhafte Verbreitung von psychischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, an die Geschichte des Christentums an: „Die Logik im kollektiven Geist, die ich nachzeichne, liegt darin, dass ich Nietzsches Diagnose mit dem Abstand von über 150 Jahre weiterführe: Gott ist nicht tot, sondern umgezogen ins menschliche Ich.“
Die Herausforderung, die Lösung zahlreicher Krisen voranzutreiben, verlangt dem Gläubigen beinahe Übermenschliches ab. „Da nun die einstmalig göttliche Schaffenskraft in mir liegt“, schreibt Nelles, „bin ich logischerweise für das verantwortlich, was geschieht.“
Psychologische Anomalien leitet der Therapeut nicht nur von Episoden aus der Kindheit, Traumata oder der sexuellen Veranlagung des Menschen ab, sondern auch von der überlieferten Kultur, die uns alle, bewusst und unbewusst, prägt. Das neue Individuum ist permanent unter Druck, sich immer neu zu erschaffen und seinen absoluten Ansprüchen, der Sehnsucht nach Erfüllung, Glück oder Wohlstand gerecht zu werden.
Der Philosoph Byung Chul-Han erklärt den Zusammenhang mit typischen, psychischen Erkrankungen unserer Zeit: „Der depressive Mensch ist (…) derjenige, der von seiner Souveränität erschöpft ist, der also keine Kraft mehr hat, Herr seiner Selbst zu sein. Er ist müde von der ständigen Forderung nach Initiative (…).“
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Therapeut rät zum Umzug ins Ich
In der psychotherapeutischen Praxis empfiehlt Nelles seinen Patienten, nicht alles lösen oder verschmerzen zu wollen, was im eigenen Leben und der Welt schief gelaufen ist. Das wäre eine Aufgabe für Götter, nicht für Menschen. Er rät zur Einsicht, dass der Umzug ins Ich eine Täuschung war und der Einzug zahlreicher Neurosen in die eigene Existenz der Preis.
Im Kern versucht sich die Therapie an einer logischen Ausweisung der alten Götter und erinnert daran, dass das Schicksal unverfügbar und der menschlichen Kontrolle entzogen ist. „Erkenntnis ist der Untergang des Ichs in seine neue Wahrheit hinein“, zitiert Nelles seinen Mentor Wolfgang Griegerich.
Es lohnt sich, in diesem Kontext darüber nachzudenken, ob auch in die muslimische Praxis längst eine ungesunde Selbstbezogenheit eingezogen ist. Die Maxime der spirituellen Selbstoptimierung und die Abkehr von einer auf Gemeinschaft ausgelegten Daseinsweise ist nicht zu übersehen.
Pseudoreligiosität der Identitätspolitik
Die eigene Identität, wird zunehmend von dem Gefühl bestimmt, diskriminiert, beobachtet oder gar verfolgt zu werden. Dafür gibt es, wenn man zum Beispiel an den Alltagsrassismus denkt, durchaus Belege. Nur, das eigene geistige Leben wird in dieser Logik von den Anderen beeinflusst und weniger von dem eigentlichen Adressaten der Bittgebete: dem Schöpfer.
Autoren wie Philip Rieff deuteten die neue Betonung der Identitätspolitik, die unsere Debatten prägt, als Teil einer Pseudoreligiosität in einem irreligiösen Zeitalter. Michel Foucault, in einem Interview aus dem Jahr 1982, erinnert an die Gefahr, der eigenen Selbstdefinition zu viel Gewicht zu geben: „Unsere Selbstverhältnisse dürfen nicht solche der Identität sein, sondern der Differenzierung, der Neuschaffung und der Innovation. Immer das gleiche zu sein ist wirklich langweilig.“
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Depression und Nihilismus
Das kulturelle Pendant zum Nichts der Depression ist im Kollektiven der Nihilismus. Die alte Frage nach dem „woher kommen wir und wohin gehen wir“ beantwortet der Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus“ auf der Metaebene. Dabei argumentiert er zunächst ähnlich wie Malte Nelles. Schon im antiken Griechenland erklärte der Philosoph Epiker, die Verehrung von Göttern sei reine Zeitverschwendung, ein Leben jenseits des Todes gebe es nicht und einziger Zweck des Daseins sei das Glück.
Harari setzt hier an und prophezeit, dass der Humanismus im 21. Jahrhundert in erster Linie nach Unsterblichkeit, Spiritualität und Allmacht streben wird und die Menschen versuchen, selbst zu Göttern zu mutieren. Die eigentliche Revolution der Moderne bestand nicht darin, die Existenz des Schöpfers zu bezweifeln, sondern die Hoffnung auf die Menschheit zu setzen.
Nicht die Politik oder die Ökonomie entscheidet über die Zukunft der Zivilisation, sondern die Technik. Das Upgrade von Menschen zu Göttern zeichnet sich aus der Sicht des Historikers auf drei Wegen ab: durch Biotechnologie, durch Cyborg-Technologie und durch die Erzeugung nicht-organischer Lebewesen.
Die alten Vorstellungen über die Macht, die uns bisher prägt, kommt dabei ziemlich ins Wanken. Was tun, wenn Algorithmen den menschlichen Willen beeinflussen, vorwegnehmen oder gar ersetzen? Die Folgen dieser neuen Möglichkeiten einer technologischen Welt sind dramatisch. Eine davon ist, aus Sicht Hararis, dass der Pakt zwischen Wissenschaft und Humanismus sich auflöst und durch eine andere Abmachung ersetzt wird, dem Zusammenspiel von Forschung und einer posthumanistischen Glaubenslehre.
Die neuen Techno-Religionen verändern das Leben radikal. Der Dataismus verehrt weder Götter noch den Menschen – er huldigt den Daten. Mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computern erfährt die Vision des Übermenschen, die Nietzsche faszinierte, eine andere Auslegung.
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Technik verdrängt den Humanismus
Der Humanismus, der Gott aus dem Zentrum der Welt verdrängt hat, wird, das ist die Ironie, selbst durch die neuen Techno-Jünger infrage gestellt. Ihr Argument, fasst Harari wie folgt zusammen: „Ja Gott ist ein Produkt der menschlichen Fantasie, aber die menschliche Vorstellungskraft ist ihrerseits das Produkt biochemischer Algorithmen.“ Die Idee, dass der Mensch Herr im eigenen Haus ist und souveräne Entscheidungen trifft, wird durch neueste Ergebnisse der Hirnforschung infrage gestellt.
Dagegen stehen die offen zu Tage tretenden Allmachtsphantasien der Datensammler. Fest steht: Die technologische Revolution ist nicht aufzuhalten. Es wird schwer werden, mit diesen rasanten Entwicklungen mitzuhalten und ein Blick auf den Arbeitsmarkt der Zukunft, wo Roboter und künstliche Intelligenz sich breitmachen, deutet drastische Veränderungen an.
Fakt ist, in der modernen Welt werden die Massen der Einsamen und Depressiven mit den – für das ökonomische System – nutzlosen Menschen erweitert. Im 21. Jahrhundert könnten wir Zeugen werden, wie eine Nichtarbeiterklasse entsteht. Die Auswirkungen dieser neuen Herausforderung auf die politischen und sozialen Systeme sind nicht absehbar.
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Was können Muslime beitragen?
Den monotheistischen Weltanschauungen traut Harari keine wichtige Rolle bei den Lösungen großer Zukunftsfragen zu: „Islamische Fundamentalisten können mantrahaft wiederholen, dass der Islam die Antwort ist, aber Religionen die den Bezug zu technologischen Realitäten der Gegenwart verlieren, verlieren ihre Fähigkeit, die Fragen, die gestellt werden, überhaupt zu verstehen.“
Es stimmt, dass religiöse Stimmen zu den hier aufgeworfenen Problemen, die sich um Technik und Gesellschaft drehen, eher selten zu hören sind. Fest steht, für die absolute Mehrheit der Muslime ist die Idee, das Rad der Zeit zurückzudrängen, keine Option.
Genauso wenig wird unser Glaube an eine humane Zukunft nur von der Logik komplizierter Rechenmodelle abhängen. Es wird zeigen, ob die islamische Praxis nicht ein Angebot für denkende Zeitgenossen darstellt, die sich von einer übermächtigen Technologie bedroht sehen.
Das eigene Schicksal, die Verpflichtungen gegenüber Gemeinschaft und Schöpfer sind im Islam im Sinne einer Balance angesprochen.
Auf der sozio-ökonomischen Ebene wirken Institutionen wie die Gilden, die Marktplätze oder das Wirtschaftsrecht, das Eigentum bejaht, aber die Macht des Kapitals einschränkt, durchaus zukunftsfähig. Und wer sich mit dem Sinn und der Bedeutung der Existenz beschäftigt, wird in der Offenbarung entscheidende Antworten finden.
Im Mittelpunkt des muslimischen Daseins steht nicht die Anbetung der eigenen Persönlichkeit oder die Vergötterung der Technologie, sondern die Preisung von Schöpfung und Schöpfer.