Der russische Dichter Belyj hat einmal über Symbole gesagt, sie stünden am Wegesrand und deuteten an ob man auf dem richtigen Weg sei. Im Islam sprechen wir davon, dass wir die Geschehnisse im Sinne ihrer Bedeutung zu lesen haben. Um Ereignisse richtig einzuordnen, müssen wir ihren geschichtlichen Kontext erkennen, da sie sich nicht über Nacht manifestieren. Erfolglosigkeit und Desaster sollte denkenden Menschen nach dem Sinn einer Strategie fragen lassen.
Bevor wir die moderne Geschichte Ägyptens uns vergegenwärtigen, heißt dies, dass wir uns – zum Beispiel – auch der Historie und den Gründen für den Fall des osmanischen Reiches stellen müssen. Selbstredend verfehlen wir auch die richtige Interpretation islamischer Geschichte, wenn wir nicht den Einfluss westlicher Moderne, namentlich der Technik, auf das Leben der Muslime verstehen. Wir Muslime haben nicht Begriffe wie „Staat, Bank, Diktatur“ geprägt, sie prägten uns.
Es war schon der Traum des modernen Gründers der Muslimbrüder, Hassan al-Banna (1906-1949), einen „Staat“ zu gründen, der die Erfordernisse der Moderne mit den Geboten des Islam vereint. Als Teil einer islamischen Reformbewegung sollten auch die Muslime möglichst schnell über neue Techniken der Macht verfügen. Beeindruckt war die Bewegung, die bis heute die Geschichte Ägyptens mit bestimmt, vom absoluten «Willen zur Macht» der Kolonialmächte, ihren technologisch ausgebauten Staaten und auch ihren neuen global angelegten Finanzinstrumenten: den Banken.
Souveräne Staaten, der «Scharia» unterworfen, sollten nach der politischen Philosophie der Muslimbrüder die islamische Welt von der Fremdbestimmtheit befreien. In Europa dagegen war nach den schlimmen Erfahrungen mit den Ideologien, der Begriff der Souveränität und der Glaube über eine „Herrschaft“ über die Technik – spätestens seit dem Werk Martin Heideggers zutiefst fragwürdig geworden. Ob wir Macht über die Technik, oder die Technik Macht über uns hat, beschäftigt Europa letztlich seit Jahrzehnten.
Seit den Gründungszeiten der äygptischen Bruderschaft blieb die „Macht“ für den politischen Islam ein unerreichbares Ziel. Schon in den 1950er und 1960er Jahren warf das nationalistische Nasser Regime die Brüder massenweise ins Gefängnis. Mit der Figur Said Qutb (1906-1966) fand sich ein Denker, der zudem die Grundideen der Bewegung weiter ideologisierte. In seinen Büchern prangerte er die «Verwestlichung» der arabische Regime an und forderte auch das gewalttätige Engagement der Muslime gegen diese Herrschaft. Seine Exekution 1966 ist nach wie vor ein Meilenstein für die Historie der Bewegung. Einige seiner Schüler – viele auf der Flucht – verbanden und exportierten seine Lehre nun mit den explosiven Ambitionen des radikalen Salafismus und Wahhabismus.
Seit diesen Tagen hat sich der «politische» Islam in unterschiedliche Fraktionen aufgespalten – in ihrem islamischen Rechtsverständnis -vorsichtig ausgedrückt – flexibel und in ihrer islamischen Haltung von esoterisch, über moderat bis hin zu extremistisch unterschieden. Beinahe alle Richtungen des „politischen“ Islam drängt es dabei an die Schaltstellen der „Macht“ im Staat.
Bis heute wurzelt das allgemeine Misstrauen gegen die Muslimbruderschaft, in den unterschiedlichen Strömungen, die auf unterschiedliche Weise mit der Gründungszeit verbunden sind. Ich teile diese Skespis. Tatsächlich ist der politische Islam um so weniger berechenbar, als er sich von den Einschränkungen des islamischen Rechts, entfernt. Als „Partei“ unterwirft er sich dem Willen seiner Mitglieder und auf die Idee der Gemeinsamkeit durch den kleinsten gemeinsamen Nenner.
Seit 1980 versucht der in Qatar ansässige Yusuf al-Qaradawi aus der „Muslimbruderschaft“ eine regierungsfähige, teilweise moderate und auch anti-jihadistische Parteiung zu bilden. Allerdings fiel dem Gelehrten nicht ein, die im Islam verpönten Selbstmordattentate der Palästinenser klar zu verurteilen und so bildete auch er die gefährliche Grundlage für eine Art «islamisches» Ausnahmerecht. Themen wie Zakat oder das islamische Wirtschaftsrecht spielen nur eine marginale Rolle, sieht man von der schrägen Idee des „islamischen Bankings“ ab.
Natürlich gab es auch in den letzten Jahren immer wieder inner-islamische Kritik an der Bewegung, bis hin zur skeptischen Frage, ob der politische Islam notwendigerweise in den Bürgerkrieg führe, weil er im Grunde, vor allem wenn er sich mit dem modernen Staat verknüpft, ein Totalitarismus sei. Gleichzeitig gab es aber auch Hoffnung, dass die muslimischen Politiker, die auch in harten Zeiten zu ihrem Glauben hielten, wenigstens eine andere, weniger korruptionsanfällige Politik für Ägypten gestalten könnten. Die Bruderschaft hatte so auch viele Unterstützer, die keine „Islamisten“ waren, also nicht der modernen Idee folgten, der Islam sei eine Art Ideologie. Viele Anhänger der Muslimbruderschaft wollten im Grunde Ägypten in einen prosperierenden, moralischen, durchaus kapitalistischen Staat verwandeln, also in eine Art Schweiz mit Alkoholverbot.
Die Regierung Mursi stand zunächst, vor etwas mehr als einem Jahr, für einen gewagten Feldversuch. Der Staat, so wie ihn die Brüder vorfanden, nach Hobbes ein sterblicher Gott oder nach Nietzsche eine Art Ungeheuer, sollte mit Hilfe „frommer“ Politiker reformiert werden. Ob ein Politiker in dürftiger Zeit überhaupt fromm sein kann, lassen wir einmal dahingestellt. Das durch Inflation, Schulden und Wirtschaftskrisen gebeutelte Land jedenfalls, mitsamt seinen jahrzehntelangen autoritären Strukturen, war durch die Politamateure der Muslimbruderschaft kaum schnell zu reformieren, geschweige denn zu demokratisieren. Die Ironie, die Brüder traten in einen leeren Raum ein, denn die „Macht“ war gar nicht am vorgestellten Ort zu Hause. Die Folge war das Gefühl der Ohnmacht, ein Zustand, nebenbei erwähnt, der in der islamischen Lehre denkunmöglich ist.
Absurderweise musste Mursi in Berlin oder Paris – ganz im Gegensatz zum alten «Freund» Mubarak, der in europäischen Städten als Handlanger hofiert wurde – sich kurz nach seiner Amtsübernahme Vorträge über demokratische Prinzipien anhören. Dies geschah zudem in einer Zeit, da viele europäische Intellektuelle den Wesenswandel der Demokratie hier und jetzt, hin zu einem autoritären Kapitalismus, bemängelten und sich fragten wie die Parlamente überhaupt noch das entfesselte Finanzungeheuer einfangen sollen.
Die Golfmonarchien – immer dem Vorwurf der Korruption ausgesetzt, aber aus der islamischen Tradition durchaus mit Legitimität ausgestattet – opponierten zudem geschickt gegen die Revoluzzer aus Kairo. Sie fürchteten, bei einem Siegeszug der Brüder, könnte die arabische Idee der Wiedervereinigung bedrohliche Züge annehmen und das Ende der Möglichkeit der Monarchien einleiten. Eine „gute“ Monarchie ist übrigens in der politischen Theorie der Gegenspieler zur Oligarchie.
Oligarchen, Militärs und alte Seilschaften taten am Nil gleichzeitig das Ihrige, um die Versorgungslage im Lande zu verschärfen und die Unzufriedenheit der Bevölkerung aktiv anzustacheln. Für eine Subventionspolitik, die die Bevölkerung beruhigen konnte, fehlte der Partei das Geld. Darüber hinaus hat die Muslimbruderschaft bis heute kein Modell einer alternativen, geschweige islamisch geprägten Wirtschaftspolitik, die Erfolg verspricht und sich gleichzeitig vom Neoliberalismus heutiger Prägung absetzt. Ironischerweise hat die Partei alle islamischen Bezüge, die heute (auch für den interessierten Europäer) Sinn entfalten würden und zur aktuellen Wirtschaftskrise wie die Faust in das Auge passen würden, man denke nur an das Verbot von Zins, Derivaten oder Spekulationen, wegmodernisiert. Bis heute fehlt es der Führung intellektuell an einem „update“, dem aktiven Austausch mit der Globalisierungskritik und ihren Finanzexperten.
So gibt es viele Muslime, die, eigentlich ganz zu Recht, die Muslimbruderschaft nur noch als «alte Dinosaurier» verspotten, sie als eine alte Ideologie definieren, die glaubt, man könne den modernen Staat einfach islamisieren oder alle Formen der Technik einfach mal so zur eigenen Machtsteigerung nutzen.
Der Vorwurf des «Islamismus» und der Verdacht, Mursi plane im Geheimen eine Ermächtigungspolitik, wenn man die Parallele ziehen will, vergleichbar mit der Politik der Nazis, die dann später ganz im Sinne der Gründungsmythen der Bewegung wirken könnte, konnte der Politiker ebenfalls nie ganz ausräumen. Die Tatsache, dass der Islam einen «islamischen» Terrorismus so wenig begründen kann wie eine «islamische» Diktatur, konnte zu keinem Zeitpunkt, sozusagen zur Beruhigung, wenigstens den Intellektuellen der Welt vermittelt werden.
Natürlich befand sich Mursi wohl auch in der Versuchung, die Möglichkeiten der „säkularen“ Diktatur, die die ägyptische Verfassung ja ganz ohne irgendwelche islamische Klauseln schon anbietet, für seine Ziele einzusetzen. Wie auch immer: Die vorbeugende Absetzung des gewählten Präsidenten und der anschließende, blutige Putsch der Militärs stellen heute eine erneute Zäsur in der Geschichte des Landes dar.
Viele politisierte Anhänger der Bewegung könnten nun das islamische Recht, das Gewalt gegen Minderheiten oder den Terror verbietet, zugunsten einer noch radikaleren Politik weiter vernachlässigen. Das größte Desaster wäre aber ein Jahrzehnt der Bürgerkriege, der Verrohung und – unausweichlicherweise – der Verarmung einer ganzen Generation. Keine Politik kann das rechtfertigen. Paradoxerweise könnte die Armee und das um den – sogenannten – Machtverlust zitternde Politbüro der Muslimbrüder eine solche Phase der Konfrontation und Dialektik gelegen kommen; lehnt es doch von der Konzeptionslosigkeit beider Politikansätze ab.
Das schreckliche Massaker an den Mursi-Anhängern, mit hunderten Toten, erinnert jedenfalls nicht nur den Publizisten Peter Scholl-Latour an die Tötung von Demonstranten auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. Zweifellos wird das maßlose Blutvergießen in den Straßen Kairos ähnlich lange im Kollektivbewusstsein nachwirken.
Wenn man will, kann man sich nun rituell aufregen, dass der Westen in diesem Fall aber nur verhalten empört ist. Machen wir uns nichts vor. Faktisch droht wieder die Fortführung einer «kommissarischen» Diktatur in Kairo, genauso wie in den Zeiten Mubaraks, inklusive der entlavenden milliardenschweren US-Militärhilfe. Die «scharfe» Ankündigung Obamas, ein Militärmanöver nicht abzuhalten, klang dabei so blamabel wie die Aussage des US-Außenministers Kerry zuvor, der Coup sei ein notwendiger Schritt zur „Demokratisierung“ des Landes. Ob die US-Amerikaner übrigens den Putsch wirklich wollten oder von der ägyptischen Armeeführung nur mit der Drohung eines durch ihren etwaigen Fall ausgelösten geopolitischen Chaos erpresst werden, ist eine der offenen Fragen. Das Wort «road map» klingt im arabischen Raum mal wieder wie eine unheilvolle Verheißung.
Jetzt ist erst einmal Hochsaison für Scharfmacher, die radikalen «Islamisten» und «Säkularisten», die entweder die Diktatur der Mehrheit oder Minderheit befürworten und die beide, wie Brüder im Geiste, ideologisch überzeugt sind, ihr jeweilige Welt sei ohne Feinde die Beste. Das Spektakel bietet Vorlagen. Einige Medien assoziieren schon fleißig alle Arten der Exzesse mit dem bewußt unbestimmt gehaltenen Begriff des „Islamismus“.
Mit der inflationären Zahl inszenierter Bilder und Feindbilder, zudem meist aus der Ferne beurteilt, lässt sich in Kairo jeder gewünschte Blickwinkel reproduzieren. Hier ist auch das Militärregime gut ausgebildet. Schon 2011 gab es Vorwürfe, wonach die Armee auch Kirchen anzünden ließ, um die Verbrechen mit dem Islam assoziieren zu können. Trost bietet im Moment nur die Sicht auf die größeren Zusammenhänge, der Alltag bleibt trostlos.