Gestern endete in Berlin eine OSZE-Tagung zum Antisemitismus. Ihre Sorge: In Europa häufen sich Übergriffe auf Juden. In der taz findet sich dazu folgendes Interview mit Alain Gresh, Chefredakteur von „Le Monde diplomatique“, der in Frankreich eher das Gegenteil beobachtet.
taz: Herr Gresh, Menschenrechtsorganisationen stellen in Frankreich Antisemitismus fest. Israel tut das. Und der US-Botschafter in Brüssel will sogar eine Parallele zu den 30er-Jahren erkennen. Als Haupttäter werden junge Muslime ausgemacht.
Alain Gresh: Das hat nichts mit der Realität zu tun. Die meisten Angriffe auf Juden in Frankreich haben während der Hochphase der zweiten Intifada stattgefunden. Heute befinden wir uns in einer Phase des Rückgangs. Die Zahlen von 2003 liegen 30 Prozent niedriger als 2002. Alle Umfragen zeigen, dass die jungen Maghrebiner nicht antisemitischer sind als die Mehrheit der Leute. Ein Jude kann in Frankreich ohne Probleme Präsident oder Premierminister werden. Die stärksten Vorurteile der französischen Gesellschaft richten sich gegen die Maghrebiner. Der Rassismus in Frankreich ist vor allem ein antiarabischer Rassismus. Hinzu kommt eine rassistische Politik.
Die Verantwortung für das eigene Tun haben die anderen?
Sartre hat gesagt: „Man ist Jude im Blick des Antisemiten.“ Das gilt auch für die Muslime. Sie sind Muslime im Blick der französischen Gesellschaft. Entsprechend reagieren sie.
Aber Sie bestreiten nicht die Existenz eines antisemitischen Denkens?
Natürlich gibt es das in gewissen Fraktionen der muslimischen Gemeinschaften. Es gibt sozial entwurzelte Jugendliche, die sich selbst mit Muslimen und die Muslime mit Palästinensern identifizieren, und für die Juden identisch sind mit Israelis.
Wer sind die Vordenker?
Einzelne Prediger. Sie kontrollieren einige Moscheen.
Welche Thesen vertreten sie?
Der Koran erzählt von Mohammed und seinen Allianzen und Konfrontationen mit jüdischen und christlichen Stämmen. Da gibt es auch eine Reihe von negativen Dingen über die Juden. Die Prediger bedienen sich dieser Verse, um zu sagen: Sie sind immer unsere Feinde gewesen. Man muss sie bekämpfen.
Gibt es verschiedene Phasen des Antisemitismus: die osteuropäische, die nationalsozialistisch-deutsche und die muslimische?
Der Begriff Antisemitismus ist nicht besonders passend. Er gehört zu der rassischen Periode des späten 19. Jahrhunderts und zu den Hitlerjahren. Zu einer Periode also, in der das Problem der Juden die Rasse war. Heute geht es um etwas anderes: Judeophobie. Das ist eine Form der Feindlichkeit gegenüber Juden, die auf der Religion basiert und auf Kämpfen in Palästina.
Fest steht, dass die Opfer der Gewaltakte in Frankreich Juden sind.
Ist es etwa kein Gewaltakt, wenn Sie keine Wohnung oder keine Arbeit bekommen, weil Sie „Achmed“ heißen?
Wenn man einen Bus voll jüdischer Kinder angreift, ist das Gewalt.
Solche wirklich schweren Vorfälle gibt es in Frankreich vielleicht 15 im Jahr. Sie sind absolut verurteilenswürdig.
Mir kommt das wie eine Verharmlosung vor.
In den Schulen versammeln sich heute die Juden und die Muslime jeweils getrennt. Das ist bedauerlich. Aber es ist so. Wenn sie sich als „dreckiger Araber“ und als „dreckiger Jude“ beschimpfen, hat das eine andere Bedeutung als ein Angriff auf einen Bus.
Für Sie ist der Antisemitismusvorwurf aufgebauscht?
Wenn eine Moschee brennt, sind das zwei Zeilen in der Zeitung. Aber die jüdische Schule von Gagny bei Paris hat uns zwei Wochen lang beschäftigt. Dabei wissen wir bis heute nichts über die Hintergründe.
Warum hat sich die Beziehung zu den Einwanderern aus Nordafrika so entwickelt?
In diesem Land hat man Einwanderer immer schlecht empfangen. Die ersten waren die Belgier. Schon gegen sie gab es Pogrome. Dann kamen die Italiener, die Juden, die Spanier. Sie alle haben Diskriminierungen erlitten. Wie jetzt die Araber. Der Unterschied ist, dass es diesmal viel länger dauert.
Warum dauert es länger?
Wegen der Vorstellung von einer islamistischen Bedrohung, die in vielen Köpfen an die Stelle der kommunistischen Bedrohung getreten ist. Al-Qaida als neue Internationale. Und wegen der sozialen Krise. Die früheren Einwanderer haben sich durch Arbeit und Arbeiterorganisationen integriert. Die kommunistische Partei hat die Italiener, die Portugiesen und die Juden aus Zentraleuropa integriert. In der KP fochten sie die französische Gesellschaft an. Dabei wurden sie gleichzeitig zu Franzosen.
Warum geht das nicht mehr?
Die Ankunft der Nordafrikaner traf zusammen mit der Auflösung der großen Industriebastionen in Stahl, Bergbau etc., in denen die Integration in den sozialen Kämpfen möglich war. Zweitens ging die französische Linke davon aus, dass die Maghrebiner zurückgehen würden. Ihr fehlte das Bewusstsein, dass die Maghrebiner die neue populäre Klasse darstellten.
Vielleicht waren die Nordafrikaner nicht vorbereitet?
Die kulturelle Erklärung halte ich für rassistisch. Man hat bei jeder neuen Einwanderung gesagt: Die können sich nicht eingliedern, weil sie eine andere Kultur haben. Was tatsächlich wiegt, ist, dass die antiarabischen Stereotype aus der Kolonisierung stammen.
Also büßt Frankreich für seine Kolonialgeschichte?
Die jungen Muslime haben eine französische Kultur. Sie können dazu ein bisschen muslimisch sein. Aber ihre Vorstellung vom Islam ist rekonstruiert und hat nichts mit der muslimischen Kultur der Ursprungsländer zu tun.
Was ist „französisch“ daran, wenn Mädchen und Jungen getrennt leben? Und wenn Frauen sich verschleiern?
Fragen Sie sich, warum das heute passiert und nicht vor zwanzig Jahren.
Weil damals der islamische Fundamentalismus international noch nicht auf dem Vormarsch war.
Ich glaube nicht, dass es daran liegt. Der rassistische Franzose sagt: Sie behandeln ihre Frauen schlecht, sie trennen Jungen und Mädchen, sie geben der Jungfräulichkeit Bedeutung. Am Ende sagen sie selbst: Ja, so ist das. Ihr lehnt uns ab. Also lehnen wir euch ab.
Sie entschuldigen extremistische Tendenzen.
Überhaupt nicht. Ich verurteile extremistische Tendenzen. Aber ich mache daraus nicht die Repräsentanten der ganzen Gesellschaft. Es gibt heute Juden, die Le Pen wählen.
Es gibt auch Muslime, die das tun.
Selbstverständlich. Ich mache deswegen weder aus den einen noch aus den anderen Faschisten oder Anhänger von Rechtsextremen. Ich versuche, im Sinne einer sozialen Klasse zu analysieren und nicht in ethnischen Kategorien. Als die Italiener nach Frankreich kamen, haben sie die Mädchen ebenfalls in „Nutten“ und „Jungfrauen“ unterteilt.
Sie sprechen von einem französischen Blick auf Muslime. Heißt das, dass es sowieso geknallt hätte: mit oder ohne Israel-Palästina-Konflikt?
Natürlich. Aber vermutlich hätte es nicht die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen verschärft. Die Situation in den Vorstädten ist seit zehn Jahren schlecht. Damals sprach man von „Delinquenten“ statt von „Muslimen“. Seit zwei Jahren sind sie auch noch „Vergewaltiger“ und „Antisemiten“.
Müssen sich Leute, die ihr ganzes Leben in Frankreich verbracht haben, mit einer Konfliktpartei im Nahen Osten identifizieren?
Das könnte vermieden werden. Für mich ist das ein politischer Konflikt. Es gibt einen Besetzer und einen Besetzten. Einen Angreifer und einen Angegriffenen. Der Besetzer ist Israel. Nicht die Palästinenser. Das hat nichts mit Religion oder Rasse zu tun. Wer die Solidarität von Juden mit Israel und von Muslimen mit Palästina propagiert, befindet sich in der jugoslawischen Logik. Was bedeutet: mit den Leuten von meinem Blut gegen die anderen.
Immerhin haben viele französische Juden familiäre Bande nach Israel. Die Nachfahren der Einwanderer aus Nordafrika hingegen kennen oft nicht einmal das Land ihrer Vorfahren. Geschweige denn Palästina.
Natürlich haben muslimische Jugendliche in Frankreich nicht die geringste Beziehung zu Palästina. Aber das neue Gefühl der Solidarität mit den Palästinensern betrifft nicht nur junge Muslime, sondern die ganze Jugend. Das ist, in Frankreich, die massivste Solidaritätsbewegung seit Vietnam.
Es gibt auch anderswo Besatzungen.
Aber es gibt nur einen einzigen Ort, wo ein Konflikt seit 50 Jahren andauert, wo es fünf Kriege gegeben hat und wo das alles direkte Auswirkungen auf Europa hat: Das ist das Heilige Land, wo die drei monotheistischen Religionen geboren sind. Palästina ist für viele Jugendliche zu einem emblematischen Konflikt der internationalen Situation geworden. Auch wenn manche dahinter ein antisemitisches Komplott sehen wollen.
(taz Nr. 7344 vom 27.4.2004, Seite 13, 237 Zeilen (Interview), DOROTHEA HAHN)