„Heroisches Märtyrertum“ so bezeichnet Yusuf al-Qaradawi im Interview der Londoner BBC Newsnight wieder einmal die Aktionen palästinensischer Selbstmordattentäter. Diese – so Qaradawi – hätten mangels besserer Waffen keine andere „Wahl“ und müssten daher gegen den übermächtigen israelischen Feind einen „verzweifelten“ Krieg führen. De facto ist Al-Qaradawi, sonst in sicherer Entfernung auf dem quasi US-Flugzeugträger Qatar beheimatet, einer der geistigen Befürwörter der so explosiven, wie auch destruktiven und erfolglosen Strategie. Rechtlich ist al-Qaradawi nach Auffassung der größeren Teil der Lehre klar im Unrecht: Selbstmordattentate sind im islamischen Recht nicht erlaubt, auch wenn Al-Qaradawi glaubt, es herrsche in der Region eine Art „Ausnahmezustand“ und deswegen seien auch nach seiner Maßgabe keine Regeln mehr zu befolgen. Die Akzeptanz von Selbstmordattentaten durch arabische Modernisten hat das islamische Recht in eine seiner tiefsten Krisen geführt und den individuellen Terrorismus als dem Islam fremde politische Form mit ermoeglicht.
De facto wandert al-Qaradawi auf dem gleichen unerträglichen Ausnahmerecht wie seine Gegner und eröffnet die Möglichkeit der Etablierung des permanenten Ausnahmezustandes für die israelische Regierung. Die Folgen sind bekannt. Israel begründet seine menschenverachtende Politik immer wieder mit den Aktionen der Attentäter. Das palästinensische Gefängnis, umgeben von den Mauern der Staatsgrenzen seiner arabischen Nachbarn, ist heute nicht nur eine territoriale sondern auch eine geistige Realität. Mit der Beförderung des palästinensischen Nationalismus wird eine Friedenslösung in der geopolitische komplizierten Region immer unwahrscheinlicher. Eine Vision für die Zukunft gibt es auch von islamischer Seite nicht.
Der im arabischen Raum populäre Professor von der Uni Qatar hat bereits 80 Bücher geschrieben und verfügt über unmittelbaren Zugang zu arabischen Massenmedien. Qaradawi ist Hafis seit er 10 ist. Al-Qaradawi hat auch in Europa Einfluß, spätestens seit er 1997 die Europäische Fetwakommission gegründet hat. In den USA ist der Gelehrte seit 1999 verbannt und darf nicht mehr einreisen, auch wenn Qaradawi die terroristischen Attacken vom 11.9 verurteilte. Warum dies in Amerika so ist bleibt unklar, manche Beobacher vermuten wegen seiner strukturellen Nähe zum islamischen Banken- und Finanzwesen. Das Washington Institut für Nahoststudien nannte ihn wegen seiner politischen Aussagen 2001 „eine Jekyll and Hyde Figur“.
Donnerstag in England. Im Radio kann man nun eine aufgeregte Debatte verfolgen. Yusuf Al-Qaradawi, Gast bei einer Konferenz organisiert von der Stadt London und dem Bürgermeister Ken Livingstone, verursacht mit seinen Äußerungen zur „Israelpolitik“ einen landesweiten Eklat. Weitere anregende Aussagen zu Fragen der Zeit, zum globalen Kapitalismus oder zur aktuellen Rolle des Islam sind wie immer eher Fehlanzeige. Die britische Öffentlichkeit ist angesichts der Anwesenheit des islamischen Lehrers gespalten. Der Oppositionsführer Howard will gar zukünftig die Ausweisung von Qaradawi wegen der Unterstützung von Selbstmordattentäter erreichen. Auf der Donnerstagausgabe der „Daily Scottish Mail“ sieht man nun das Bild eines wütenden Gelehrten mit dem ironischem Untertitel „Willkommen im Land der Meinungsfreiheit“.