„Was bleibt? Was kommt? Was verschwindet für immer?“, unter diesem Motto beschreibt Gabor Steigart, Chefredakteur des «Handelsblattes», in seinem neuen Buch eine Welt im dramatischen Wandel. „Das Ende der Normalität“ erschien nur wenige Tage vor den dramatischen Ereignissen in Japan und sein „Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war“ erhält dadurch einige Brisanz. In 27 kurzen Kapiteln beschreibt Steingart eine Welt, die scheinbar ihre alten Gravitationzentren verloren hat und in der das Individuum („wer Menschheit sagt, will betrügen“) als letzter, scheinbar verlässlicher Bezugspunkt nach Ordnung sucht. Die neue Spezie, so liest man in dem schwungvollen Essay Steingarts, sucht nun nach einer neuen „übermenschlichen“ Lebensformel.
Steingart zählt viele wichtige Beispiele verlorener Normalität auf, erzählt Anekdoten über Menschen, die alleine zu Hause sitzen und 300 „Facebookfreunde“ haben. Aber nicht nur in der Kultur, auch im Denken und Einordnen der Welt lösen sich die gewohnten Selbstverständlichkeiten auf. Wir erleben nicht nur im ökonomischen Feld eine galoppierende Inflation, sondern erfahren auch die „Inflation der Wahrheit“ überhaupt, die Auflösung der verbindlichen Begriffe und – insbesondere im Internet – die fortlaufende Produktion von Wirklichkeiten. „Nicht die Dinge ändern sich, sondern die Beziehungen zwischen den Dingen“, schreibt Steingart. Familie, Kirche, Religion bleiben, verlieren aber an gewohnter Allgemeinverbindlichkeit. Jeder Mensch schafft sich per Mausklick die Illusion seiner eigenen Ordnung.
Als wäre das alles nicht genug, muss das auf sich allein gestellte Individuum sich auch von den altgewohnten sozialen Sicherheiten verabschieden. Der deutsche Begriff der „Gemütlichkeit“ wird wahrlich altmodisch. Der Volkswirtschaftler Steingart nennt präzise alle gesellschaftlichen Herausforderungen: vom demographischen Problem über die Schuldenlast, bis hin zur Rentenlüge. Im Grunde bleibt dem verbleibenden Rest arbeitender Menschen nur die absolute Hingabe an die Produktivität. Das logische Kernproblem, in Zeiten des „Weltfinanzbebens“, beschreibt Steingart treffend: „Der produktive Kern des Landes, also jene Sphäre der Wertschöpfung, in der Wohlstand erzeugt wird, zieht sich zusammen, derweil die Kruste, da, wo die Kernenergie konsumiert wird, sich ausweitet.“
Nach vielen klugen Seiten und einer überzeugenden Beschreibung des „Endes der Normalität“ freut sich der Leser auf die von Steingart versprochenen Ausblicke, die Mut machen wollen. Zu Recht spricht der Autor ja nicht vom Ende der Welt, sondern nur „vom Ende der Welt, wie wir sie kennen“. Hier hätte man ein wenig mehr Aufschluss darüber erwartet, wie Steingart die wachsende Individualisierung und Atomisierung des Menschen in Relation zu seinen politischen Möglichkeiten setzt. Hat der Mensch als Individuum überhaupt noch die Kraft, gegen den unheimlichen Sog der Globalisierung irgendeinen Widerstand zu leisten? Ob das „Internet“ wirklich die alten, verbindlichen Offenbarungen ersetzen wird, wäre ebenfalls eine spannende Anschlussdebatte.
Gabor Steingart; Das Ende der Normalität; Piper Verlag, 176 Seiten