Die liberale Gesellschaft setzt auf eine Art gehegten Bürgerkrieg. Statt in „Straßenkämpfen“ gegeneinander anzutreten, setzten zivilisierte Bürger auf den Streit der Argumente, wählen Vertreter, die theoretisch Gegensätze verkörpern und in Parlamenten – oft nach mühsamen Debatten – dennoch einen Konsens finden. Die Ergebnisse sind oft Kompromisse, ihrer Natur nach gemäßigt und kaum radikal.
In diesen Tagen wird die Krise des Parlamentarismus durch die Wiederbelebung der Straße ergänzt. Über diesen Zusammenhang herrscht eine merkwürdige Stille. Die Sprachlosigkeit der Politik gegenüber der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte wurzelte in der zugebenen Inkompetenz der politischen Eliten gegenüber der Machenschaften der global vernetzten Finanztechnik. Das Schweigen der Mahnwachen basiert wiederum in einer diffusen Überforderung einfacher Leute, der Lösung – angesichts der Komplexität der politischen Lage – eine einfache Logik zu geben.
Naturgemäß sucht die Straße nun nach Autoren, die dem Drama einen tieferen Sinn verleihen sollen. Die Bewerber sind durch Karrierechancen angezogen und wollen dem „Volk“ aus der Sackgasse heraus helfen. Das Dilemma: Wählt das „Volk“ die Differenzierer, dann endet man wieder im Parlamentarismus alter Tage. Wählt man die Generation der verbrauchten Endfünfziger, die in der Bundesrepublik endlich politisch Karriere machen wollen und in absurder Egomanie anbieten, den berühmten Karren aus dem Dreck zu ziehen, endet man schlicht im Nichts.
Man könnte also getrost weitergehen, wäre da nicht eine alte politische Technik, die trotz widriger Inhalte die Bewegung dennoch im Schwung halten könnte und in der skrupellosen Anwendung den Mangel an Programmatik übertrumpft. Es bleibt nur auf die Feindschaft gegenüber dem Anderen zu setzen, der Logik Freundschaft zu stiften, im Zusammenschluss gegenüber dem imaginären Feinde. Also der alltagserprobten Losung aller Identitätskrisen zu folgen: Wir sind gut, wie sie böse sind!
Hier kommt die Notwendigkeit von unmittelbarer Gegnerschaft ins Spiel. Wie bei einem Boxkampf bleibt es nur hitzig, wenn auch ein Gegner mitkämpft, der dem verhassten Gegenüber eine direkte Angriffsfläche bietet und dem Strom der Demonstranten so Energie spendet. Alle politischen Extreme fördern die Struktur, die sie angeblich bekämpfen. Es freuen sich nebenbei: Parteien als Für und Wider, Feuilletonisten, Medien, die die ausgewählten, als massentauglich befundenen Losungen ohne Prüfung multiplizieren – Bewegungen so einen verlautbaren Namen geben und – natürlich – als bewährter Schiedsrichter, die am Ring positionierten Sicherheitsorgane.
Man könnte tröstend von „Oben“ sagen: Ein kleiner Bürgerkrieg ist immer noch besser als eine ausgewachsene Revolution. Angela Merkel ist eine Politikerin, die das Spiel der Medien und die Wirkung von Bildern gelernt hat. Sie lässt Deutschlandfahnen dann sofort einsammeln, wenn es schlecht für den Export ist. Unlängst weigerte sie sich, die Glocke der Frankfurter Börse zu tätigen. Stattdessen mahnte sie: „Als Politikerin muss ich den Menschen überzeugend sagen können, was da an den Märkten passiert, geschieht nach Recht und Gesetz. Nie wieder soll das Geld der Steuerzahler zur Rettung von Banken verwendet werden müssen, das steht die Politik nicht beliebig oft durch.“
Der Glaube an Recht und Gesetz ist allerdings längst erschüttert. Über dem Theater der Straße wölben sich die Gebäude der Finanzstrukturen. Hinter den Dämmen unserer gehegten Gemeinwesen stauen sich ungeahnte Finanzmengen, Ströme virtueller Transaktionen, die ganze Volkswirtschaften jederzeit hinwegreißen können. So ist unsere Ratio nachhaltiger herausgefordert. Im Grunde geht es um die Überwindung der Dialektik gegen den Feind (so übel er sein mag) hin zu einer Verknüpfung der Politik mit der Philosophie.
Die Philosophie bekennt die Unmöglichkeit von nationaler Souveränität gegenüber der ungeheuren Macht globaler Finanztechnik. Sie täuscht sich auch nicht über die Erosion von Kultur und Religion hinweg; so wenig, wie über die eigentlichen Gründe massenhafter Flucht. Als Ethik verneint sie das Postulat, wir seien nur für das verantwortlich, was sein soll, sonst aber nur unbeteiligte Passanten, die durch die Welt blicken wie sie ist, als seien wir nur Pauschaltouristen.
Es ist also größte Sorge angebracht. Dieses Szenario, und die Kanzlerin ahnt es bereits, steht die Politik tatsächlich nicht beliebig durch. Sie geht über das Spektakel, das die Straße zu veranstalten vermag, hinaus. Hier ahnt man den möglichen Abgrund, wenn der ehemalige Schweiger aus Dresden aus dem Ring gelassen wird und, entlassen aus der Mechanik der Hegung, seinen Feind und Sündenbock sucht.
Wem Revolution und Bürgerkrieg naturgemäß nicht entsprechen, muss nach einer Evolution der Gedanken suchen, hin zu einem Modell des Miteinander und der Einheit – weg von der Gewalt angeblich sinnstiftender Feindschaft.