Im Grunde braucht es nach wie vor die Mentalität eines Archäologen, um das eigentliche Wesen der islamischen Lebenspraxis freizulegen. Gerade die lautstarken Debatten um die diversen Schattierungen des „politischen Islam“ machen – gerade auch für Nichtmuslime – das Unterfangen herauszufinden was der Islam im Ganzen ist, nicht unbedingt einfacher. Der Islam ist zweifellos mehr als das Gezänk um die Politik. Von seinem Ursprung her dreht sich die Offenbarung zu wesentlichen Teilen um ökonomische Grundüberzeugungen, um soziale Verantwortung und das Zusammenleben in Gemeinschaft. Es sind genau diese Aspekte des Islam – wenn sie denn entfaltet sind –, die auch die Dominanz des Politischen ausschließen.
Es ist kein Zufall, dass die ökonomische Lehre des Islam bisher auf die Idee islamischer Banken reduziert bleibt. Erschwert ist die Sicht auf den Islam zudem durch die verbreitete Verwirrung über einige, den Islam definierenden Begriffe. Benutzen wir hier zum Beispiel einfache Übersetzungen, müssen wir uns an die Einsicht Carl Schmitts erinnern, dass die politische und philosophische Terminologie in unseren Breiten zumeist aus „säkularisierten theologischen Begriffen“ besteht.
Natürlich verändert auch unsere ökonomische Realität die Bedeutung einer Religion. Es kommt zur einer Umkehrung von Werten. Sogar wesentlicher Pfeiler des Islam wie die Zakat verlieren an Bedeutung, während die individuelle Glaubensausübung immer stärker in den Mittelpunkt tritt. Die Individualisierung, die unsere Zeit mit ausmacht, führt dazu, dass viele Muslime ihren Körper – sozusagen als letzte zu haltende Bastion – konsequent „islamisieren“ (Kleider, Bart, Kopftuch), während gleichzeitig die Hegung der Kleinfamilie alle spirituellen und ökonomische Kräfte aufzehrt; auch, weil aus der 3-Zimmer-Wohnung mit Mietbelastung kein Weg zu einer authentischer Gemeinschaft (mit ihren wesentlichen Einrichtungen, also Moschee, Markt und Stiftungen) mehr zu führen scheint. Die Vertretung der Muslime übernehmen zunehmend hauptamtliche Funktionäre.
Kurzum, es ist die Dynamik des Kapitalismus selbst, der – von vielen Muslimen völlig unbemerkt – unsere religiösen Überzeugungen unter dauernden Veränderungsdruck setzt. Unser Verhältnis zum Geld – bei Muslimen könnte man auch sagen, die Ignoranz gegenüber dem Geld – ist ein wichtiger Ausdruck dieses Wandels. Ein interessantes Buch zu diesem Thema hat nun die Professorin Christina von Braun vorgelegt. In „Der Preis des Geldes“ legt sie nicht nur eine faszinierende Kulturgeschichte des Kapitalismus, sondern insbesondere auch unserer Zahlungsmittel, vor.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Zeichensprache des Geldes und der Religion. Der Abstraktionsgrad des Geldes – mehr Zeichen als realer Wert – verbindet Von Braun nun explizit mit der Geschichte des Christentums. „Es ist nicht nur der sakrale Ursprung, sondern auch die Zeichenhaftigkeit des nominalistischen Geldes, die das Geld mit dem christlichen Glauben so kompatibel machen“, schreibt die Autorin. Die Idee von Schuld, die das Christentum mit ausmacht, korrespondiert mit der Möglichkeit absoluter Verschuldung durch eine absolut wachsende Geldmenge.
Wie der Historiker Le Goff provoziert auch Christina von Braun mit der These, dass „die Kirche“, vorsichtig ausgedrückt, „kein Hemmnis in der Entwicklung des Kapitalismus war“. 1566 fällt die Katholische Kirche die Entscheidung, dem Vorbild der Kaufleute zu folgen und das Kalenderjahr nicht mit dem Osterfest, sondern mit dem 1. Januar beginnen zu lassen. Die Erfordernisse der modernen Buchhaltung beginnt die Religion langsam zurückzudrängen.
Von Braun präsentiert viele weitere bedenkenswerte Fakten über das Verhältnis von Christentum zum nominalistischem Geld. Je weniger das Papier real wert ist, desto mehr müssen „Glauben“ und „Heilsversprechen“ das Geld – gewissermaßen wie eine Hostie – religiös aufladen. Die Geldsphäre hat so die religiöse Sphäre kontinuierlich in sich aufgezogen. Von Braun zitiert Jochen Hörisch, der zum theologischen Hintergrund des Abendmahls ausführt, dass es sich „bei Brot und Wein, wie bei bei dem Geld um Symbole handelt, die versprechen, dass an ihnen substantiell etwas dran sei“.
Aus diesen Illusionen heraus, weist dann – so von Braun – die „unsichtbare Hand“ der freien Marktwirtschaft (Adam Smith) eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der christlichen Lehre einer lenkenden Hand Gottes auf. Banken, Märkte, Versicherungen beanspruchen zunehmend eine allgegenwärtige Macht, die die Religiosität und politische Souveränität des Menschen in Frage stellt. Mit der Flucht ins Private (oder in das Paradies) bestätigt der Mensch dann seine angebliche Ohnmacht gegenüber diesen Verhältnissen.