Ganz recht. Und das interessante am 11. September ist zum Beispiel, dass unmittelbar, nachdem er passierte, die Menschen noch nicht wussten, wie man sich dazu stellt. Da fand noch ein Champions-League-Spiel statt, da war noch eine politische Analyse darüber möglich, warum das World-Trade-Center Ziel war. Drei Tage später: Es gab keine Amusements mehr, die Trauer wuchs, der Schock wurde übermäßig bearbeitet. Und plötzlich war die politische Analyse verboten. Jeder, der nicht sagte „grauenhafte und durchgeknallte Muslime“, wie der Spiegel schrieb, war irgendwie politisch inkorrekt. Aber sie haben recht: Solche Ereignisse nennt man in der Geschichte einen Knacks. (Roger Willemsen im Interview mit der Deutschen Welle)
Der Knacks sei nicht der deutliche Bruch und schon gar nichts Psychologisches, sondern eine allmähliche Veränderung in Lebensläufen, „darstellbar in der Landschaft, im Lichtwechsel, im Blickwechsel“. So erklärt Willemsen den „Knacks“ auf einer Lesung in Ravensburg. Sein neues Buch mit gleichem Titel ist nicht nur ein neues Beispiel sprachlicher Meisterschaft, sein Erinnern an Nah- und Fernliegendes, Symbol seiner Bereitschaft, dem Tode ins Auge zu sehen und Ausdruck seines ausgeprägten Forscherdrangs in die menschliche Existenz – es schult auch unbemerkt das eigene Auge auf den Begriff.
Seit der Fußballweltmeisterschaft fällt mir ein kleines, graues Haus an der vielbefahrenen Bundesstraße auf. Damals fand ich zwei portugiesische Flaggen logisch. Ein Fußballfan aus Portugal eben. Nur – heute sind es immer noch die gleichen Flaggen, es sind sogar vier weitere hinzugekommen, die nun am Häuschen kleben und im Wind flattern, wenn die Laster vorbeibrummen. Ein Knacks? Ausgelöst durch das Ausscheiden? Ein Portugiese, der seinen Knacks ausstellt, weil er statt an der Bundesstraße lieber am Tejo wäre? Ich denke daran, anzuhalten und zu fragen, was es mit dem „Portugal“ dieses Mannes wirklich auf sich hat.
Natürlich kann man den Knacks auch bei den Muslimen beobachten. Mittagsgebet. Ein „türkisches Kulturzentrum“, in einer öden Fabrikhalle untergebracht, Gewerbegebiet, geteerte Parkplätze. Hier ist der „Knacks“, dass man – weit weg von der als verloren angesehenen Heimat – keine Kultur mehr hat. In der Stadt: Ein Mann im Taliban-Look, Frau im Tschador, auf den Stufen hinauf zum Arbeitsamt. Überhaupt, der aufgelöste Zusammenhang von Wissen und Handeln, die Aufspaltung gegenüber dem imaginären Feind, die verlorene Einheit überhaupt – „Risse im Gemälde“, wie Willemsen sagen würde.
Der Knacks ist keine Theorie, eher eine andauernde Herausforderung. Alleine ist ihm nur schwer aus dem Weg zu gehen. Man spürt ihn als Möglichkeit, wenn man kondulieren muss. So habe ich einen muslimischen Freund erlebt, der am Tag, der sein Leben veränderte, als ich anrief, sich dem drohenden Knacks in den Weg stellte und den Tod seines 11-Jährigen Sohnes, der nach dem Abendgebet von einem Auto überfahren wurde, mit „Alhamdullillah“ kommentierte. Er hat mich für diesen Moment vor einem Knacks bewahrt.
Offensichtlich begünstigt der Knacks, der nicht zu verhindern ist, „Kompensationshandlungen“, die, um diese zu verstehen, man in Relation zum Knacks setzen muss, um das ganze Bild zu bekommen. Willemsen zitiert den berühmten Maler Goya: „auch die Zeit ist ein Maler“. Das Kopftuch, das auch so wichtig wird, weil es heute die Religion der ganzen Strasse ersetzen muss. Das Kulturzentrum, weil der säkulare Staat keine Götter neben sich duldet. Das religiös anmutende Spektakel um den „Heilsbringer“ Obama, weil das System selbst, für jeden Einzelnen, extrem wenig politischen Spielraum lässt.
Wie kann man den Knacks überwinden? Wie verhindert man gar die Ausweitung des Knackses zum Abgrund? Diese Frage ist so wenig neu wie die Antwort, die man immer wieder finden muss. Schicksal oder Zufall? Kommt das Leben wirklich nur von innen? Allein so, in der alltäglichen Justierung und Empfänglichkeit gegenüber dem Wort der Göttlichkeit, verändert sich die Schattierung und das eigene Bild vom Sinn des Lebens.