„Ist es nicht so, daß wir aus Dingen eine Mauer um uns errichten, eine hohe Mauer, um den Tod nicht zu sehen? … Der Motor der Konsumgesellschaft ist nicht die Freude am Leben, sondern die Angst vor dem Tod.“ Lotte Ingrisch, Schriftstellerin (*1930).
Die Debatte über die politische Einheit Europas wird durch die Abstimmungen in Holland und Frankreich scheinbar gebremst. Die tiefe Unsicherheit, die sich darin spiegelt weist auf die Frage: „Was ist eigentlich die Identität Europas?“. Im Moment flüchtet sich die Bevölkerung Europas angesichts des Siegeszuges des globalen Kapitalismus in eine Art hilflose Anti-Haltung und in zarte Gegenbewegungen: Ein bisschen Nationalismus, ein bisschen Kapitalismuskritik, ein bisschen Christentum. Die EU kümmert es wohl eher wenig und man regiert nun eben einige Jahre ohne Verfassung weiter. Die Grundfragen bleiben: Wohin führt die Geschichte und wie kann man mit nationalen Demokratien globales Kapital in seiner Macht begrenzen?
Aus dem Vortrag von Schaikh Abdalqadir As-Sufi „Schiller Sicht des Schicksals“ aus dem Jahr 1995:
„In unserer Zeit gelangen wir nunmehr vom dialektischen Materialismus in den absoluten Materialismus. Amerikanische Intellektuelle erklären: Die Geschichte ist an ihr Ende gekommen. Die Doktrin des Kapitalismus von Banken und Aktiengesellschaften, die heute die Erde umspannt, leugnet die Freiheit des Menschen, wie auch geistige und politische Freiheit. Die Persönlichkeit – nach wie vor innerhalb eines Materialismus – erfährt ihren Rang nicht mehr dadurch, ein Arbeiter oder ein Kapitalist zu sein, sondern sie erhält ihre Identität durch das Sexuelle. Das Sexuelle jedoch ist etwas, das man ist, nicht etwas, das man tut. Es ist alle Freiheit, die man noch bekommen kann. Man darf keine Religion mehr haben, denn sie würde dem Staat entgegenstehen. Man darf nicht gesellschaftliche Unabhängigkeit erstreben, denn man könnte ja das Papiergeld, das Goethe im Faust gebrandmarkt hatte, ablehnen und ein eigenes Zahlungsmittel wählen.
Mittlerweile ist das Schicksal aus der Geschichte beseitigt. Der Finanzkapitalismus hat das Schicksal aus der geschichtlichen Entwicklung gestrichen. Es gibt also im Persönlichen kein Schicksal mehr, so wenig es im Geschichtlichen noch einen Platz hat – doch es wird nicht einfach verschwinden. Wo ist es heute zu finden? Das Schicksal taucht im Mikrokosmos wieder auf! Ihre Gene, Ihre genetische Struktur sollen Ihr Schicksal sein. Ihre Geschichte sei in Ihrem genetischen Bauplan zu finden, Sie sind jetzt schon vorherbestimmt, einzigartig, auf mikrobiologischer Ebene. Ihr Leben, Ihr Tod finden sich in Ihrem genetischen Code. Hier begegnen wir der letzten Degradierung des Menschen.
Es gibt eine andere Sichtweise. Es ist diejenige Schillers. Es ist diejenige des Islam. Seine Wissenschaft der menschlichen Existenz nennt man Sufismus. Sie besagt, dass Sie Ihr Schicksal in Ihrem Herzen tragen. Es ist in Ihre Zellen eingeschrieben, ausformuliert in einem riesigen, komplexen Muster, während Ihres Lebens formt es sich aus, kreuz und quer färbt es das Schicksal der Menschen, die Sie umgeben und Ihres Zeitalters. Das Anerkennen eines Schicksals führt nicht zu Passivität und Scheitern. Es bringt Weisheit. Es ist die Tür zur Ergebung und Annahme. Sie sind menschlich. Sie werden nicht umhin können zu sterben. Ihr Leben ist das kostbare Geschenk, dies gilt es zu erkennen. Die einzige Frage ist: Werden Sie es mit Wissen tun oder in vergeblicher Verweigerung?
Es gibt im Islam zwei Schlüsselbegriffe aus dem Qur'an, die von den Gelehrten immer falsch übersetzt werden als Gläubige und Ungläubige, auf arabisch: Muminun und Kafirun. Tatsächlich bedeuten sie: Diejenigen, die annehmen, und diejenigen, die leugnen. Nicht die Idee Gottes, sondern die Wirklichkeit unserer menschlichen Situation. Und dies ist auch der Grund, warum Nietzsche, dessen Name ebenfalls eine Verbindung zu Weimar hat, unsere Zeit am besten charakterisiert hat, indem er ihren Nihilismus vorausgesehen hat, der sich heute amerikanischer und europäischer Staat nennt. Und Nietzsche sagte, man müsse intelligenterweise erkennen, dass man sich dem Islam zuwenden muss. Und der berühmte Wortwechsel zwischen Carlyle und Goethe lautete: „Wenn das der Islam ist, sind wir dann nicht alle Muslime ? – Ja, alle denkenden Menschen sind es.““