„Es kommt heute durchaus vor, dass die eigene minderjährige Tochter – in der Schule als einzige Muslima weit und breit bekannt – plötzlich hochkomplizierte Fragen als Vertreterin des Weltislam vor Ort zu beantworten hat.“
Hin und wieder erscheint der „Osten“ Deutschlands als eine Art „no go area“ für Muslime. Und ja, ich kann mich an einen türkischen Freund erinnern, der vor Jahren versuchte, einen Imbiss in einer thüringischen Kleinstadt zu eröffnen und nach einigen dumpfen Anfeindungen schließlich entnervt aufgab. Die neuerlichen Aufmärsche der PEGIDA-Bewegung, die etwas konfus der „Islamisierung“ entgegentreten will, haben das Image Ostdeutschlands nicht gerade verbessert. Hin und wieder erscheint der Osten nun als grundsätzlich provinziell und rückständig.
Meinen eigenen, persönlichen Erfahrungen sind allerdings andere. Natürlich sind wir als muslimische Familie hie und da in unserer Nachbarschaft aufgefallen. So, wenn wir im sommerlichen Ramadan am frühen Morgen uns bei Dunkelheit zum Frühstück versammelten, um dann wieder die Lichter zu löschen und zu Bett zu gehen. Überhaupt hat wohl das eine oder andere private Ramadanfest im Garten für leichte Irritation gesorgt. Beispielsweise, wenn der eine oder andere Besucher aus Marokko in seiner Dschalabija erschien oder die bunten Kopftücher der Gäste Farbtupfer in den ostdeutschen Alltag brachten.
Aber, wie gesagt, fast immer sind die Ostdeutschen nach eigener bescheidener Erfahrung eher mit Gleichmut dem befremdlichen Phänomen gegenübergetreten. Die Erklärung meinerseits „wir seien Muslime“ wurde dann oft ohne jede Reaktion aufgenommen. Genauso, wenn man lapidar bekennen würde, „ein Mensch“ zu sein. Über Jahre fand ich diese Haltung durchaus angenehm, zumal es nerven kann, wenn jeder beliebige Zufallskontakt, ob mit Berechtigung oder nicht, seine Vorstellungen über die Weltreligion kund tut.
Natürlich hat der Islam – oder besser gesagt, die verbreitete „Idee““ des Islam, in den letzten Jahren auch viele Mitbürger verschreckt. Kann man Ihnen es verdenken? Beinahe jeden Tag erscheinen Bilder offensichtlich fanatisierter Gläubiger, die morden und marodieren, aber auch beten, den Qur’an lesen und es wirken somit Assoziationen, die auch die Lebenspraxis des einfachen Muslim irgendwie zu touchieren scheinen. Es kommt heute durchaus vor, dass die eigene minderjährige Tochter – in der Schule als einzige Muslima weit und breit bekannt – plötzlich hochkomplizierte Fragen als Vertreterin des Weltislam vor Ort zu beantworten hat.
Natürlich wird die Wirkung dieser Phänomene durch den Geist der „Breaking News““ ungeheuerlich verstärkt. Die Basis moderner Medien bilden ja oft genug weniger Recherche oder verstehende Analyse, sondern die Technik der Suchmaschinen, die im Sekundentakt die Lebenswirklichkeit von beinahe zwei Milliarden Menschen nach Phänomen, die „rückwärtsgewandt“, „gewalttätig“, „konservativ“ erscheinen, durchforsten und an uns Leser verkaufen.
Auf Basis dieser Veröffentlichung entsteht nicht nur eine gewaltige Assoziationsmacht, die uns auch hier betrifft und betroffen macht, sondern auch ein fortlaufender Zwang für uns Muslime zur Reaktion, also entweder die indirekt die Macht bestätigende Flucht ins Private oder aber der alltägliche Bekenntniszwang, also die plakative Erklärung, „fortschrittlich“, „harmlos“ und „liberal“ zu sein.
Ich bin nach wie vor überzeugt, dass nur der direkte Kontakt gegen die Vorurteile gegen uns helfen können. Gestern Abend war ich auf einer interessanten Veranstaltung mit dem Politiker der Linken André Brie in der ostdeutschen Provinz. Brie stellte dem Publikum sein Buch Frieden kriegt man nicht! vor, eine persönlich gehaltenes Resümee Dutzender Reisen in die Krisenregionen der muslimischen Welt. Wie immer steigt das Niveau zuverlässig, wenn der Referent von eigenen, existentiellen Erfahrungen berichten kann. Diese Nahdistanz, die nicht nur auf Grundlage von „Fernsehen“ urteilt und zumeist eher gemäßigt ist, ist allerdings selten geworden und wir bewegen uns zunehmend abgelöst von einer radikalen Subjektivität, die für das Urteilen keine direkte Erfahrung mehr nötig hat.
Was mich bei der Thematik erstaunt hat: Neben der berechtigten Abscheu gegenüber dem IS, fällt weder in dem Referat über die Krisenherde der islamischen Welt, noch in der anschließenden Diskussion, ein einziges islamfeindliches Wort. Die Arbeiter, Rentner und Werktätigen, was man gemeinhin das „einfache Volk“ nennen könnte, differenzierten vielmehr und zeigten keinerlei Ressentiment. Mit Verlaub, das ist eben auch gesellschaftliche Realität in Ostdeutschland.
In der interessanten Diskussion ging es um die ökonomischen Motive der Kriegführung, die vielbesungenen Machenschaften der Geopolitik, der Extremismus-Export der Saudis in das Afghanistan der 1980er und 1990er sowie die fatale Wirkung der Uranbomben im Irak. Die Herangehensweise aller Teilnehmer dieser kleinen Runde war nicht nur verstehend; sie versuchte auch die geschichtliche Bedingungen des Terrors, der ja nicht vom Himmel gefallen ist, ins Visier zu nehmen.
Das Ergebnis der Debatte ist weder die weltfremde Behauptung, alle Muslime seien toll, aber auch nicht alle Muslime seien böse, sondern eine Differenzierung und Einordnung der humanen Lage in der Moderne. Endlich wirken wir „Guten“ im „Westen“ dabei nicht nur wie unbeteiligte, zufällig anwesende Beobachter. Herrlich auch der emotionale Beitrag einer Besucherin, die mit dem allgemeinen Ausruf gipfelt, „die Männer, denen nichts mehr heilig ist, seien eben verrückt geworden“.
Letztlich sind sich alle im Raum einig, dass die Wahrung des inneren und äußeren Friedens ein bürgerliches Engagement nötig macht. Die Jahrzehntelange verbreite Losung „Nie wieder Krieg““ muss wiederbelebt werden. „Warum kommen zur Love Parade Hunderttausende, zum Friedensmarsch aber nur noch Hunderte?“, fragt einer in die Runde.
Es gibt natürlich gute Gründe, pessimistisch zu sein. Brie zeigt die komplizierte Lage am Beispiel „Kurdistan“ und arbeitet die aggressiven Interessen aller geopolitisch Beteiligten auf. Die Lunte brennt und könnte eine ganze Region in den Abgrund führen. Viele Menschen erkennen diese Gefahr, ohne sich aber in einer einfache Dialektik gegen den absoluten Feind bequem einzurichten. So lobt der Linke Brie, ganz ohne ideologische Berührungsängste, den CDUler Jürgen Todenhöfer für seine realpolitischen Ansichten in Sachen Naher Osten. In seinem Buch berichtet Brie immer wieder von der durchaus möglichen Überwindung ehemaliger Todfeindschaften, dem Gespräch zwischen Palästinensern und Israelis zum Beispiel.
Bries Schlusswort am Abend gilt dann wieder für Ost und West: „Die Geschichte ist ein Lehrmeister, es gibt leider nur wenige gelehrige Schüler.“