„Die Historiker werden nur dann wertvolle Dienste leisten, wenn sie die Kernfrage der Geschichte der beantworten können: was ist Macht?“ ( Leo Tolstoi)
Präsidenten kommen und gehen in diesen Tagen, die Krise bleibt. Vielleicht ist der Wechsel im Führungspersonal und die spektakuläre Suche nach politischen Größen deswegen so spannend, weil sie uns einige Tage über unser eigentliches Dilemma hinweg tröstet. Wir müssen uns schon aus Vernunftgründen eingestehen, dass der alte Kapitalismus nicht mehr funktioniert. Es sind die bekannten Sensationen, die uns nachhaltig sorgen müssen. Europa hat Schulden in einer Größenordnung, die eine Rückzahlung illusorisch erscheinen lassen und, wenn wir nichts tun, unsere gewohnten Gesellschaftsordnungen unter unheimlichen Veränderungsdruck setzen werden. Unsere Politik hat bisher, angesichts der größten ökonomischen Krise der Menschheitsgeschichte und angesichts der globalisierten Macht des Kapitals, keine einleuchtende Zukunftsvision hervorbringen können.
Unsichere Zeiten
In Griechenland erleben wir gerade, wie schnell das totgeglaubte Monster des Nationalismus oder des Kommunismus wieder in Europa auferstehen kann. Die Mobilisierung der griechischen Bevölkerung, die selbst nur ein Bruchteil des Hilfspakets erhält, gegen weitere Einschränkungen oder Sparmaßnahmen gehört zu den aktuellen Schreckensszenarien der Brüsseler Finanzjongleure. Die Prognosen sprechen von einer Verfestigung autoritärer Bürokratien und von der weiteren Einschränkung der politischen Souveränität. Befürchtet werden, nicht nur in Athen, künftig neuartige Staaten, deren Sicherheitsapparate und Verwaltung über Generationen hinaus vor allem die geordnete Abwicklung der Schulden kontrolliert. Wer seine Steuern und Zinsen nicht bezahlt, wird zum Staatsfeind. Die nationale Politik hat nicht nur ihren eigenen Entscheidungsspielraum eingegrenzt, sondern als Option, die dem Menschen erlaubt, zwischen wesentlich verschiedenen Entwürfen zu wählen, ausgedient. Im Mutterland der Demokratie heißt das praktisch, dass, unabhängig von künftigen Wahlen, jede Athener Regierung die Vereinbarungen mit der EU befolgen muss.
Teil des Problems
Die Muslime, auch in der 3. Generation noch immer in erster Linie als Immigranten wahrgenommen, werden von einer Mehrheit der europäischen Bevölkerung bisher als Teil des Problems, nicht aber Teil der Lösung wahrgenommen. Man unterstellt ihnen bisweilen, den angeblichen Konsens der europäischen Gesellschaften von innen aufzuweichen. Die ökonomische und soziale, also die gebende Seite des Islam, blieb gleichzeitig über Jahrzehnte unerkannt. Das ist kein Wunder. Der muslimische Intellekt hat bisher die Umkehrung seiner Prioritäten nicht verhindern können. Wichtig sind im Diskurs nur die Aspekte der persönlichen Moral, ein wenig Politik oder die Kleiderordnung, unwichtig dagegen bleiben die ökonomische Moral, die Gesetze des Marktes oder die Zakat. Gelehrte und Funktionäre, falls sie überhaupt einen intellektuellen Führungsanspruch haben, hatten seit dem 11. September in erster Linie ihre politische Verortung klären müssen und dann um ein wenig öffentliche Anerkennung gerungen. Einen Beitrag zur Bewältigung der ökonomischen und sozialen Krise Europas konnten sie nicht formulieren. Es fehlt hier eindeutig auch an dem nötigen „know how“. Ohne explizite Kenntnisse und natürlich auch ohne funktionierende Beispiele eines angewandten islamischen Wirtschaftsrechts muss die Existenz der Muslime, inmitten der größten ökonomischen Krise dieses Jahrhunderts, natürlich rückwärts gewandt und bestenfalls irrelevant erscheinen.
Die Krise – aus muslimischer Sicht
Im Mittelpunkt jedes muslimischen Lebens steht natürlich, ganz unabhängig von der Zeit, in der wir leben, die eigentliche Fundamentalkrise jeder Existenz: die eigene Endlichkeit. Die Erinnerung an Endlichkeit, Schicksal und die Vergegenwärtigung der Allmacht des Schöpfers relativiert die Wucht äußerer Krisen. Die Gelassenheit, nicht etwa ideologische Verbohrtheit, ist daher eine typisch islamische Haltung. Das ist nicht mit Fatalismus oder mit der Flucht ins ausschließlich Geistige zu verwechseln. Muslime haben durchaus Realitätssinn. Auf gesellschaftlicher Ebene herrscht das Bewusstsein, dass jede politische Ordnung, wie dies Ibn Khaldun betont, Phasen des Auf- und Niedergangs nicht verhindern kann. Politische Situationen sind der Zeit unterworfen, kommen und gehen, Muslime leben darin, ohne dass ihre islamische Lebenspraxis im Kern gefährdet ist, zumindest dann, solange ihre Riten möglich bleiben und zeitlose ökonomische Grenzziehungen, wie das Zinsverbot, als Fixpunkte des Handelns verbleiben.
Prinzip “contra naturum”
Die Offenbarung prophezeit, dass die Verletzung des Zinsverbotes als ein Prinzip „contra naturum“ für keine Gesellschaft folgenlos bleibt. Aber es bleibt nicht bei dieser negativen Klausel, denn gleichzeitig wird der „faire“ und „freie“ Handel als Sinn stiftend und befreiend definiert. Die Freiheit des Handels und die Freiheit der Auswahl der Zahlungsmittel begründen aus islamischer Sicht jede freie Marktwirtschaft. Europa hat heute diese Grundregeln in sein Gegenteil gekehrt, der Handel ist durch Monopolisierung stark eingeschränkt, während die Gesetzlosigkeit der Zinswirtschaft legalisiert wurde. Durch die Benachteiligung anderer Zahlungsmittel als die der staatlichen Papierwährungen, ist die Schaffung großer Massen schlechten Geldes und die Flutung der Märkte möglich geworden. Macht hat, wer über die Notenpresse verfügt. Es ist ein Nebeneffekt der Geldherrschaft, dass die öffentliche Meinung jederzeit manipuliert werden kann.
Der Modernismus
Es gibt Debatten, die wirklich wichtig sind, weil man nur mit ihnen das Wesen der Zeit, in die man hereingeworfen wurde, verstehen kann. Nur wenn man seine Zeit versteht, also in unserem Falle begreift, dass wir in einem von der Ökonomie geprägten Zeitalter leben, kann man den wichtigen Dingen im Islam entsprechendes Gewicht geben. Die ökonomischen Gesetzlichkeiten, die der Islam offenbart, betreffen nicht nur das Individuum, sondern das komplexe Netz, das heute alle unseren ökonomischen Transaktionen bilden. In den letzten Jahrzehnten wurde allerdings das ökonomische Modell des Islam immer mehr auf das „Islamic Banking“ reduziert. Die überfällige Debatte der Muslime um die Legitimität von „islamischen“ Banken ist ein überaus lohnender Streit. Es geht darum, ob wir wirklich echte ökonomische Alternativen und eigene Modelle haben. Keine Frage, die Auseinandersetzung über den geistigen Ursprung der „islamischen“ Bank, führt uns direkt in die Denkwelt des politischen Islam. Dieses einseitige „politisierte“ Verständnis des Islam, insbesondere in seinen Ausprägungen im arabischen Raum, hat sich als eine notwendige Reaktion gegen den westlichen Imperialismus verstanden. Der Westen als Schöpfungsort moderner Technologie und Wissenschaft schien in der historischen Perspektive als „Moderne“ der islamischen Lebenspraxis und seinen Traditionen haushoch überlegen. Die politischen und ökonomischen Instrumente des Islam mussten, so zumindest die Überzeugung der neuen muslimischen Denker, den neuen Gegebenheiten, notfalls auch mit Hilfe einer Neuinterpretation des Rechts, angepasst werden. Heute erscheint diese Reform, insbesondere die Aufgabe wichtiger Institutionen und Überzeugungen der islamischen Ökonomie, in vielen Teilen eher fragwürdig.
Moderne und Technik
Der Schrecken über die brutale Ankunft der Moderne, die das Denken der Muslime im 20.Jahrhundert prägt, geht einher mit der gleichzeitigen Faszination von den neuen Techniken, die sich auch den Muslimen als neue Hilfsmittel der politischen Macht anboten. Dem politischen Islam ging es darum, diesen Vorsprung durch Technik einzuholen, zum Beispiel die Mobilisierungskraft von menschlichem Willen zu kopieren, die neuen Kampftechniken nachzuahmen, in die Beherrschung der Atome einzusteigen und mit der industriellen Produktion von Geld Schritt zu halten. Der politische Islam organisierte die Ziele des vermeintlichen Gegenschlags, also die eigene Rückgewinnung von Macht, in Form von „islamischen“ Techniken, sei es in Form von Parteien, Atomwaffen oder Banken. Diese neuen – islamisierten – Kopien schienen den alten Originalen überlegen und versprachen den islamischen Staaten die schnelle eigene Machtergreifung. Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass mit der Idee des Modernismus auch eine schleichende Säkularisierung des Denkens einherging. “Was ist und wer hat Macht?”, die Beantwortung dieser Fragen bestimmten den neuen Trend im islamischen Denken. Die Vorstellung, dass Macht etwas sei, das der Mensch nach Gutdünken für sich gewinnen und organisieren kann, passte sich dabei eher unbemerkt der westlichen Vorstellungswelt von Machtprozessen an. Die islamische Welt zwischen Damaskus und Kairo fühlte sich lange Jahre dementsprechend ohnmächtig. Die „Modernisierung“ und -angesichts der „Macht“ des Westens – gleichzeitige „Demoralisierung“ des islamischen Denkens nahm seinen Lauf. Es ist interessant, dass praktisch zu gleicher Zeit im Westen unter dem Eindruck des Unwesens der Ideologien und ihrer technologischen Kriege eine fundamentale Technikkritik einsetzte. Heidegger formulierte einen grundsätzlichen, schockierenden Zweifel an der Basis moderner Politik. Die Technik, die der politische Islam für seine Zwecke instrumentalisieren wollte, habe – so Heidegger – eine dem Grunde nach politikfeindliche Dimension, indem sie den Menschen gerade nicht ermächtige, sondern auf Dauer versklave. Die Finanztechnik, als das kombinierte Wirken von Kapital und Technik, beschleunigte unter den Augen der westlichen Intelligenz, bis zum heutigen Stadium, diesen Vorgang der unheimlichen Entpolitisierung. Die Bedürfnisse der Technik, des Staates und der Partei dominieren den neuen Glauben.
Zweifel am Bankwesen
Es ist ein weiteres Paradox, dass heute unzählige westliche Denker die Humanität des Bankwesens längst anzweifeln, während große Teile der islamischen Welt noch immer die angeblichen Segnungen des „Islamic Banking“ feiern. Es stellt sich eine einfache Frage: kann eine Bank überhaupt „islamisch“ sein? Immer mehr Muslime antworten nach den jüngsten Erfahrungen mit nein. Eine Bank ist eine Bank. Jede „islamische Bank“ nimmt als Bank am globalen Geldsystem teil. Das monetäre System beruht auf dem Recht, dass einzelne Zentralbanken praktisch grenzenlos „Geld aus dem Nichts“ schöpfen können. Die Idee einer globalen politischen Macht bedingt natürlich das Vermögen zur Schaffung endlosen Kapitals. Die Voraussetzung für diese Art der Maßlosigkeit ist, dass die Produktion von (inflationärem) Papiergeld nicht an den Besitz realer Güter gekoppelt bleibt. Die „islamische“ Bank versucht nun in dieses System eine Art moralischen Impuls einzuhauchen. Sie will angeblich nur die religiös korrekte Seite des Systems bedienen. Hierzu muss sie die Debatte von der (inflationären) Natur des Geldes, das sie wie jede andere Bank bedenkenlos benutzt, weg lenken. Die Frage, ob das Geld an sich moralisch, „gut oder schlecht“, sein kann, spielt für die „Islamische“ Bank und ihre Theoretiker (übrigens auch für viele muslimische Puritaner und Hardliner) keine Rolle. Die Entfremdung des Sinnes islamischer Verträge und die dreiste Aushebelung des Zinsverbotes, die das „islamische“ Bankenmodell leider auszeichnet, wäre ein Thema für einen anderen Tag.
Das islamische Geld – ein Ausblick
Im arabischen Raum, mit seinen ungeheuren Ressourcen, wird heute wie in den Jahrhunderten zuvor die Zukunft des globalen Handels diskutiert. Viele muslimische Gelehrte sehen im Tauschgeschäft zwischen Öl und Papier, das wesentlicher Teil der jüngeren Wirtschaftsgeschichte der Ölländer ist, einen grundsätzlichen Widerspruch hinsichtlich des koranischen Gebotes des „gerechten Handels“. In jeder eigenständigen Wirtschaftsordnung ist die Definition von Geld, als Basis aller Transaktionen, elementar. Im Islam sind Papiere, die nur auf ein Zahlungsversprechen hinauslaufen, eindeutig verboten. Im Koran werden gold- und silbergedeckte Dinar und Dirhams als die traditionellen Zahlungsmittel ausdrücklich erwähnt. Die Frage an den Islam ist heute, ob er noch ein Modell vorstellen kann, das eine Antwort „jetzt“, ohne die sinnlose Romantik eines „zurück“, ermöglicht. Das islamische Wissen um die Logik des Geldes entfaltet bereits wieder erstaunliche Aktualität. Um mehr über diese Seite des Islams herauszufinden, bedarf es des intensiven Studiums des ganzheitlichen Modells der Ökonomie. Man wird bald feststellen, dass die Lehrer und die Lehranstalten, die über dieses, ehemals klassische Repertoire verfügen, dünn gesät sind. Die meisten Lehrer, gerade im akademischen Betrieb, verfolgen in erster Linie den öffentlichen Nachweis, zu welcher Form des politischen Islam sie sich zugehörig fühlen. Hier schließt sich dann der Kreis.