„Haben sie noch alle Tassen im Schrank?” Mit diesen ungewöhnlichen Worten beginnt „Die Zeit” ein Interview über das neueste Buch von Naomi Klein, „Die Schock-Strategie“. Das provokante Werk berührt das Herzstück aktueller politischer Fragen und verrückt die etablierte Sicht auf das moderne Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik. Betrachtet man die ersten Rezensionen über das Buch, dann fällt der Schock auf, der offensichtlich durch den Gedanken ausgelöst wird, dass unser Kapitalismus nicht nur einige bedauerliche historische Betriebsunfälle fabriziert hat, sondern als direkte Folge seines ewigen Expansionsstrebens auch systemimmanent Terrror und Zerstörung in sich trägt. Die daraus resultierende Frage ist klar: Trägt man als aufgeklärter Europäer für so etwas auch eine Mitverantwortung?
Klein zeigt das Schicksal unterschiedlichster politischer Bewegungen auf, die sich von der Demokratie Freiheit und Souveränität erhofft hatten, sich aber nach der Machtergreifung einer unsichtbaren Hand gegenüber sehen, die die ökonomischen Schlüsselpositionen gegen das Volk selbst in Stellung bringen. Die Lehre der neueren Geschichte ist schnell gezogen: Das ökonomische System siegt eigentlich immer und hat durch diese Siege und der künstlichen Anhäufung gigantischer Kapitalberge eine immer gewaltigere Integrationskraft.
„Die offizielle Geschichtsschreibung” so Klein im „Zeit“-Interview, „liest sich heute so, als seien Kapitalismus und Demokratie Hand in Hand gegangen, als habe marktliberale Ideologie in einem Kampf der Ideen triumphiert.“ Klein zeigt aber anhand der Ereignisse in Russland, Polen, Südafrika oder im Irak, wie wenig das Volk bei der Zementierung der Machtverhältnisse tatsächlich berücksichtigt wurde.
Schonungslos ist Klein bei der Aufarbeitung des jüngsten Irakkrieges. Hier geht es – aus ihrer Sicht – einer privatisierten Kriegsindustrie und einer Heerschar von Lobbyisten zumindest auch um Aufträge und Gewinnmaximierung. Der Vorwurf an Klein, sie versuche den armen Leser durch Darstellung einiger Folterszenen zu schockieren, um ihn ideologisch zu beeinflußen, liest sich einigermaßen absurd. Natürlich ist es nicht Kleins, sondern Amerikas Strategie, wie wir in unseren Fernsehsesseln im Telekrieg ja beobachten konnten, von Anfang an auf die Maxime „shock and awe“, „Schock und Furcht“ zu setzen. Kleins entscheidender Punkt ist es, dass es nicht nur militärisch und psychologisch darum ging, die Bevölkerung zu desorientieren, sondern auch darum, Wirtschaftsreformen im Sinne Washingtons durchzusetzen.
Auch die Anwendung von Folter ist nicht nur eine zufällige Ausnahme, sondern ein bewusst eingesetztes Stilmittel. Die systematische Folter dient dazu, die Identität des irakischen Volks auszulöschen, um, so Klein provozierend, den Menschen eine neue aufzwingen zu können, die den Idealen des freien Marktes entspricht.
Dafür gibt es abscheuliche, wenn auch in Vergessenheit geratene Vorbilder, die in dem Buch ausführlich zur Sprache kommen. Im chilenischen Militärputsch von 1973 sieht sie beispielsweise das Vorbild für diese Strategie. Die Rhetorik hat Tradition. Auch in Chile sollte ein Musterland der Marktwirtschaft etabliert werden, das der Region dann als Leuchtfeuer der Demokratie dienen würde. Der wichtigste Wirtschaftsberater des Diktators Pinochet dabei war der Nobelpreisträger Milton Friedman.
Politik ist eine Bühne, wer aber schreibt das Stück? Der inneren Logik des Buches folgend ist Kleins entscheidender Regisseur hinter den Kulissen kein Politiker, sondern mit Milton Friedmann ein Vertreter der „neoliberalen” Wirtschaftstheorie. Die Journalistin und Globalisierungskritikerin erlaubt sich, den 2006 verstorbenen Nobelpreisträger samt seiner „neoliberalen“ Wirtschaftstheorie mitverantwortlich für Elend und Zerstörung an den unterschiedlichsten Schauplätzen zu machen.
Etwas hilflos, angesichts hunderter Seiten von Fakten, kommentiert die „Welt“ dennoch, Kleins wichtige Abhandlung sei nur ein „einseitiges Geschichtsbuch geworden”. Natürlich ist der Ruf nach der „Verschwörungstheorie” die Keule, die manchem Leser ersparen soll, die akribisch gesammelten Fakten näher zur Kenntnis zu nehmen. Klein sei einseitig, so die Kritiker etwas zynisch, denn sie verschweige Erfolge und würdige den Rückgang der – natürlich immer noch atemberaubend hohen – Opferzahlen, nicht ausreichend genug als „positive” Seite der Globalisierung.
Hat Klein eine Alternative? Natürlich wird sie dies gefragt, denn die moralische Unberührtheit der Kritiker Kleins lebt ja von der These, dass es zum „Schock-Kapitalismus” eben keine Alternative gebe. Klein tut nicht den Gefallen, sich in Utopien oder gar die Forderung nach einem „Umsturz” zu erheben. Ihre Sympathie für linke Ideologien und ihr Interesse am Aufguss alter Links-Rechts-Grabenkämpfe scheint ebenfalls begrenzt zu sein.
Ihre politische Aufgabe sieht sie wohl vor allem darin, unserem vernetzten Wirtschaftssystem einen Spiegel vors Gesicht zu halten und dem Leser klar zu machen, dass er auf Dauer nicht nur ein passiver Beobachter im Weltgeschehen sein kann. Die strukturell bedingte Unterdrückung ganzer Völker wird auch für ihn nicht folgenlos bleiben. Im „Spiegel“-Interview macht Klein deutlich, dass es ihr zunächst nur um die Veränderung der politischen Wahrnehmung geht: „Es ist zwar aus der Mode gekommen, offen für eine wirtschaftliche Schocktherapie einzutreten. Aber der Drang, Länder im Interesse der großen Konzerne zu reformieren, hat sich nicht verlangsamt. Wohin ich nur blicke, nutzen Regierungen jede Katastrophe, um diese Agenda voranzutreiben”.
Fischer Verlag Preis € (D) 22,90 Preis SFR 40,40 (UVP) 768 Seiten, gebunden ISBN 978-3-10-039611-