„Und findest du nicht in den oligarchischen Staaten Bettler?“ „Fast nichts als Bettler, außer den Herrschenden!“ (Platon Politea, 552d)
Auf FTD-Online kann man das Ergebnis einer umfangreichen Recherche von Bloomberg nachlesen: Die tatsächlichen Risiken, die der amerikanische Staat bislang eingeht, übertreffen das im September verabschiedete, 700 Mrd. $ schwere Rettungspaket um mehr als das Zehnfache. Bei der Addition der Einzelposten kommt man auf 8500 Mrd. $, das ist mehr als die Hälfte des amerikanischen Inlandsprodukts. Natürlich stellt sich in solchen Konstellationen die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Ökonomie und Politik.
Erinern wir uns: Politische Begriffe sind nicht nur flexibel, sie unterliegen auch dem Wandel der Zeit. Schon der griechische Denker Polybios (200-120 vChr.) entwickelte im römischen Exil die berühmte Theorie vom Kreislauf der Verfassungen. Bei seinen Untersuchungen über Monarchie, Aristokratie und Demokratie kam Polybios zu dem Schluß, dass jede Verfassung einmal untergehe. Auch wenn Verfassungen kommen und gehen, einem notwendigen inneren Wandel unterliegen, bleiben die politischen Fragen hinter den Ordnungen seit den großen griechischen Denkern dieselben.
Seit Platon (428-348 v. Chr) diskutiert die politische Wissenschaft immer wieder die Grundfragen der Politik: das Verhältnis zur Macht, die Techniken der Machtausübung und das spannungsreiche Verhältnis der Politik zur Ökonomie. Natürlich wird auch immer das Einwirken der „Fortune“ oder des „Schicksals“ auf die menschlichen Bemühungen, eine Ordnung zu etablieren, reflektiert. Für viele Jahrhunderte ist dabei die Idee einer reinen Menschenherrschaft undenkbar. Der Mensch organisiert, schafft, plant, wird aber auch immer wieder Opfer und Nuztnießer unvorhersehbarer höherer Kräfte.
Besonders in Krisenzeiten werden wieder die alten Grundsatzfragen nach einer gerechten Herrschaft aktuell. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Heute – über 2000 Jahre nach Platon – sind es wieder in erster Linie die Fragen nach dem Verhältnis von Politik und Ökonomie. Bei den letzten US-Wahlen stellte sich wieder einmal die Frage nach der Unabhängigkeit der Politik. Was heißt es für die Demokratie, wenn immer mächtigere Unternehmen Parteien und ihre Kandidaten finanzieren oder Medienunternehmen beherrschen?
Im Moment erlebt die Menschheit die schlimmste Finanzkrise seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts. Es ist eine Art ökonomischer „Ausnahmezustand“, in dem sich die eigentlichen Machtverhältnisse in einem Land zeigen. In kürzester Zeit wurden gigantische Beträge zur Rettung der maroden Banken in der ganzen Welt aufgebracht.
In Amerika war das politische Problem besonders sicht- und spürbar. Leute, die für die Wall Street arbeiteten, für Finanz-, Versicherungs- und Grundstücksgesellschaften sowie die politischen Aktionskomitees der Firmen, haben Millionen Dollar in die Kampagnen von Senator Obama und Senator McCain investiert. Es ist daher nicht besonders überraschend, dass beide Kandidaten für die Rettungsaktion der Wall Street gestimmt haben.
Nach den US-Wahlen leiht die Fed Geld im Geheimen und jenseits politischer Kontrolle und sogar weit über das für Finanzunternehmen vorgesehene Rettungspaket hinaus auch an andere Unternehmen, die in Not sind. Allein in einer Novemberwoche, so die Washington Post, sind 507 Milliarden an Banken, 50 Milliarden an Investmentfirmen, 70 Milliarden an Fonds und 266 Milliarden an Unternehmen gegangen, die kurzfristige Kredite halten.
In seiner berühmten Politea – etwas unglücklich als „Staat“ übersetzt – definiert Platon die Oligarchie, als „Jene Verfassung die auf der Vermögensschätzung beruht, in der die Reichen herrschen und die Armen keine Macht haben“ (Politea 550d) Die Macht des Geldes und des Reichtums birgt für Platon eine logische, auf Dauer zerstörerische Gefahr: „Wo im Staat der Reichtum und die Reichen geachtet sind, dort sind Tüchtigkeit und Tüchtige weniger geschätzt.“ (551a).
Die Folgen der geistigen Erosion sind so dynamisch wie unumkehrbar: „Aus siegfreudigen und ehrgeizigen Männern werden schließlich gewinnnsüchtige und habgierige, den Reichen rühmen und bewundern sie und führen ihn in die Ämter, den Armen mißachten sie“.
Platon entwirft sodann die – im Lichte der heutigen Finanzkrise – zeitlos aktuelle Gefahrenlage: Die Oligarchen und ihre Strukturen nutzen ihren gewachsenen Einfluß, um das Recht und die Verfassung in ihrem Sinne umzugestalten. Völlig unabhängig von ihrem Hintergrund, religiös oder nicht, unterminieren die Oligarchen das traditionelle Recht zu Ihren Gunsten.
Geld und Gelderwerb bestimmen künftig die „oligarchische“ Verfassung des Individuums. Was Platon besonders fürchtet: Die politische Einheit des Gemeinwesens zerbricht. Es entsteht notgedrungen, was man heute eine Parallelgesellschaft nennen würde: „Ein solcher Staat ist notgedrungen nicht einer, sondern zwei, ein Staat der Armen und einer der Reichen, obwohl sie im selben Staat leben und doch sich immer gegenseitig auflauern“. (551d).
Zweifellos war das 20. Jahrhundert, nach dem Wahnsinn der modernen Ideologien, von einer tektonischen Machtverschiebung von der politischen zur ökonomischen Ebene geprägt. Moderne Verfassungen beinhalten die bekannten Schutzmechanismen gegen die Machtergreifung von Ideologen, den berüchtigten coup d´Etat, aber sie ignorieren gleichzeitig auch die Möglichkeit eines lautlosen „Coup de Banque“. Das immer stärker wachsende Kapital vernetzt sich global und beherrscht nationale Parteien und die öffentliche Meinung gleichermaßen.
Die politischen Akteure postmoderner Staaten sind Politiker, genauer Parteipolitiker, die im Prozeß der Globalisierung vergeblich gegen das globale Erstarken oligarchischer Strukturen ankämpfen. Das politische Grundproblem zwischen ökonomischer und politischer Macht ist also klar: Wer regiert eigentlich wen?
Schon 1911 hat Robert Michels in einem klassischen Werk zur Parteienforschung das „eherne Gesetz der Oligarchie“ nachgewiesen. Michels geht davon aus, daß jede Organisation unvermeidlich eine Führungsschicht hervorbringt, ohne diese effektiv und dauerhaft kontrollieren zu können. Heute, 100 Jahre später, in Zeiten schwieriger, für die Mehrheit der Bevölkerung unverständlicher Sachdebatten, hat sich dieses Phänomen noch weiter verstärkt. Die Notwendigkeit hauptamtlicher Funktionäre, der Informationsvorsprung der Parteispitze und die immer mehr um sich greifende Spezialisierung der Politik bewirken eine Verselbständigung des Parteiapparates.
Wie kann man sich gegen diese Tendenzen wehren? Der große islamische Geschichtsdenker Ibn Khaldun sieht nur eine Möglichkeit, den Nihilismus zu stoppen. Grundsätzlich glaubt auch er nicht an lineare Fortschrittsmodelle, sondern vielmehr an das natürliche Auf und Ab politischer Ordnungen. Ihre Qualität und ihre Einheit, so Ibn Khaldun, hängt dabei allein von ihrer Möglichkeit zur Transzendenz ab.
„Nur in Allahs Hilfe bei der Einrichtung seines Dins (oder Lebensweise)“ schreibt er in seiner berühmten Muqqadima, „kommen die Wünsche der Einzelnen in der Durchsetzung ihrer Ziele zusammen, und die Herzen werden vereint (..). Das Geheimnis dessen ist, dass die Herzen von falschen Sehnsüchten angezogen werden und der Welt zugeeignet sind – gegenseitige Eifersucht und weit verbreitete Unterschiede auftauchen. Aber, wenn sie der Wahrheit zugewandt sind, die Welt zurückweisen und alles, das falsch ist, und auf Allah zugehen, dann werden sie in ihren Augen eins. Eifersucht verschwindet. Gegenseitige Zusammenarbeit und Unterstützung erblühen. „ (Die Muqadima, 319-20).