„Ein Helmut kommt, ein Helmut geht“, so kommentierte Ernst Jünger in seinen Tagebüchern lakonisch den Eintritt Helmut Kohls ins Kanzleramt. Zweifellos kann man an der ungewöhnlichen Karriere des Pfälzer Machtmenschen das Wesen des Politischen selbst studieren. Kohl, über Jahrzehnte unterschätzt und das große Feindbild der Linken der 80er Jahre, organisierte zielstrebig seinen Aufstieg, organisierte Netzwerke und schaltete Gegner aus.
Über Jahrzehnte reichte ihm seine Sekretärin jeden morgen einen Zettel mit einer Liste treuer „Parteisoldaten“, die es anzurufen galt: Geburtstagsgrüße, Genesungswünsche und Verabredungen. Kohl organisierte wie kein anderer seine Partei, mehr noch, höchstpersönlich kannte er alle lokalen Besonderheiten und die Eigenheiten ihrer Akteure.
Für einen Moment hätte man denken können, politisches Geschick sei vor allem diese Fähigkeit, den Willen anderer zu organisieren; das logische Resultat eines energetischen Kraftaktes. Damit wäre auch der politischer Erfolg mit einiger Konsequenz planbar. In Wirklichkeit gilt aber natürlich das eiserne Gesetz, wonach Macht nur geliehen werden kann und die Unwägbarkeiten des Schicksal den Lebenslauf bestimmen.
Erste Zweifel an der schlichten Machbarkeit einer politischen Karriere durften just in dem Moment aufkommen, als Kohl das Kanzleramt erreichte. Diesen Sieg verdankte er nicht etwa Wahlen, sondern Dritten. Kohls Glück war, dass Genscher im günstigen Moment von der sozial-liberale Koalition abrückte. Eine ganze Generation kannte nun für 16 Jahre nur noch einen Kanzler: Helmut Kohl. Zunächst verlacht und gedemütigt als „Birne“, zeigte Kohl doch große staatsmännische Eigenschaften und auch eine eher seltene politische Gabe: das Zusammenführen gegensätzlicher Positionen zum Wohle des Landes. Unvergessen bleibt so die symbolische Freundschaftsgeste des konservativen Deutschen mit dem französischen Sozialisten Mitterand in den Kriegsfeldern von Verdun.
Den Höhepunkt seiner politischen Karriere, die seine geschichtliche Größe festschreiben sollte, erreichte er mit dem, was man eben nicht organisieren kann und was man wohl „Fortune“ nennt. Es sind die nicht planbaren Umstände am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein. Nachdem Kohl kurz vor dem Höhepunkt seiner politischen Karriere sogar sein Krankenbett verlassen musste, um einem Putsch einiger Parteifreunde auf dem Bremer Parteitag abzuwehren, schlug seine Stunde.
Natürlich hatte Kohl immer an die Einheit geglaubt, nur machen konnte auch er sie nicht. Die Geschichte übertrug ihm die Rolle, der unvergessene Kanzler aller Deutschen zu werden. Eine einmalige Chance, die er tatkräftig, wenn auch nur mit einer eher symbolischen Handlung, dem berühmten 10-Punkte Plan, ergriff. Seine persönliche Integrität und seine glaubwürdige Identität als europäisch denkender Staatsmann, verhinderten zweifellos das jederzeit mögliche Gegensteuern der Verbündeten.
Nach diesem Höhepunkt kam naturgemäß der langsame Fall. Die Währungsfrage löste er noch großzügig, die DM gab es nun für alle Deutsche. Blühende Landschaften versprach er als geborener Optimist. Kohl bereitete mit dem Euro auch der europäischen Einigung den Weg. Dennoch, seine Macht nutzte sich über die Jahre ab. In seinem 1998er Wahlkampf sah ich Kohl in Weimar: Er sah müde aus, versteinert, im Angesicht der sicheren Niederlage wankte Kohl wie ein angeschlagener Bär über den Weimarer Marktplatz auf das Podium. Er wusste, dass er nicht mehr siegen würde. Das Ende ist bekannt – bis hin zur so glücklichen wie unglaublichen Machtübernahme seiner späteren Nachfolgerin, die er ja einst groß machte.
Angela Merkel siegte überraschend im Nachfolgestreit, während Kohl in die Niederungen der Spendenaffäre abglitt und den tragischen Tod seiner Frau verkraften musste. Sieht man heute den zerbrechlich gewordenen Machtpolitiker, hilflos in seinem Rollstuhl sitzend und 80 Jahre alt, bleibt das Gefühl der Sympathie für eine ungewöhnliche Lebensleistung. Ironisch wirken die Lobreden und herzlichen Glückwünsche der alten Gegner, die ihm nun, dem alten Staatsmann, freimütig gewährt werden. Die eigenen Parteifreunde wirken dagegen gegenüber dem großen Vorsitzenden vergangener Tage merkwürdig erkaltet.