Le Monde: Der Philosoph Andre Glucksmann beschreibt dort den Weg ins Chaos oder die Situation in einem „Konzentrationslager unter freiem Himmel“. Ein engagiertes Manifest gegen die geschichtslose und gesichtslose Politik Europas. Was bedeutet diese de facto Toleranz angesichts der russsischen Politik?
Andre Glucksmann:
Wer das Ende der Welt lebt, sieht es nicht, wer es sieht, lebt es zwar nicht, aber er ist dazu verdammt, gegen seinen Willen am Rande des Abgrunds zu meditieren. Ein kleiner Junge mit zu großer Schiebermütze und gelbem Stern auf der Brust in einem Loch im Warschauer Ghetto reckt die Hände in die Luft; ein brennendes vietnamesisches Mädchen flieht vor dem Napalm, das sie einkreist; ferne, aber allzu menschliche Strichlein springen aus den Türmen von Manhattan. Heute suchen blutüberströmte hagere Kinder die Pause zwischen zwei Gewehrsalven in Beslan um herauszustürmen. Zeugen des Abgrunds, die mich bis ins Grab verfolgen werden. Seit zehn Jahren habe ich vorausgesehen, dass der überaus dreckige Tschetschenienkrieg ins Desaster führen wird. Ich bin untröstlich über die toten Kinder von Beslan, bestürzt, entwaffnet, wie alle, die in den aufgerissenen Augen einer Geisel entdecken, dass das Unmögliche möglich ist.
Wir dürfen vor diesen Bildern nicht flüchten. Sie sind prophetisch. Die apokalyptische Szene, die sich da am 3. September unter unseren Augen abspielte, hat Zukunft. Eine scheußliche Zukunft. Wie eine dreistufige Rakete zielt sie nicht nur auf Kaukasien und Russland, sondern auf ganz Europa.
1. Beslan ist die wahnsinnigste Geiselnahme der Geschichte. Durch die schiere Zahl der Opfer, aber vor allem durch die absolute Grausamkeit, die sich hier abspielte. Wer seine Bomben an Girlanden über Hunderten von Kindern befestigt, wer sie mit dem Tod bedroht, wenn sie weinen, sie zwingt, ihren Urin zu trinken, der schreckt vor nichts mehr zurück. Schon gar nicht vor der Hölle. Heute eine gekidnappte Schule, morgen ein in die Luft gesprengtes Atomkraftwerk. Warum nicht, die Terroristen sorgen sich so wenig ums eigene Leben wie um das der anderen.
Unnötig, über die himmlischen oder irdischen Motive zu spekulieren, man muss sie nach ihren Taten beurteilen: Diese Kindermörder sind die schlimmsten aller Mörder, Feinde der Menschheit, ein Abschaum, der den „warmen und köstlich perversen“ Geschmack des Bluts goutiert, wie Varlam Schalamow (zwanzig Jahre Gulag) schrieb. Eine erste Figur des Chaos.
Wer waren diese Mordkommandos? „Tschetschenen“, sagen russische Behörden, ohne einen einzigen gesehen zu haben. Zwei Tage später bestreitet das Sergej Iwanow, Putins Verteidigungsminister: „Kein einziger Tschetschene war in dem Kommando.“ Das ist wenig glaubhaft. „Zehn Araber“, „ein Neger“, „ein Koreaner“, „Georgier“, „Tataren“, „Kasachen“ sagen offizielle Sprecher, ohne einen Beweis.
Ruslan Auschew, ehemaliger Präsident von Inguschien, von Putin geschasst, die einzige Person, die den Mut hatte, in die Schule zu gehen, um ohne Mandat mit den maskierten Geiselnehmern zu sprechen, nimmt eine multiethnische Truppe mit Inguschen, Osseten, Slawen (Russen? Ukrainern?) wahr. Mit anderen Worten: Dieses Kommando setzte sich weder ausschließlich aus Tschetschenen zusammen, noch ist es für sie repräsentativ. Es wird von Aslan Maschadow, dem Chef der Unabhängigkeitsbewegung, der eine internationale Untersuchung verlangt, sofort und rückhaltlos verurteilt. Der Kriminelle Bassajew, ursprünglich eher eine Kreatur des russischen Militärgeheimdienstes GRU (1) als des tschetschenischen Nationalismus hat zunächst dementiert und sich dann mit schmutzigem Zynismus bekannt. Putin macht den „internationalen Terrorismus“ verantwortlich, spricht das Wort „Tschetschenien“ nicht aus, fordert weltweite Solidarität, aber verweigert jede internationale Hilfe bei der Untersuchung. Das Angebot von Interpol wird abgelehnt. Wird man eines Tages Aufklärung erhalten? Eine undurchsichtige Nebelwand. Putin erlaubt sich sogar den Luxus und den Zynismus, auf der einen Seitevor ausländischem Publikum das Heldentum Tschetscheniens zu preisen: „Nicht eine Parzelle unsere Landes zählt so viele Helden.“
Auf der anderen Seite setzt der Kreml ein Kopfgeld auf Maschadow aus und stigmatisiert eine ganze Bevölkerung. Ein Volk, das seit zehn Jahren massakriert wird, wird in ein Volk von Mördern verwandelt. Tschetschenen unter anderen, ja, „die“ Tschetschenen, nein!
2. Gegenüber von diesem nihilistischen Kommando, das nichts und niemand rechtfertigen kann, am wenigsten ich, steht der andere Bestandteil des Chaos: Putin und seine „Ordnungskräfte“, die eine mit Kindern vollgestopfte Schule mit Maschinengewehren und Flammenwerfern „befreien“. Man braucht gar keine ausgesprochene Entscheidung, um den Angriff zu starten, es reicht, dass man von vornherein jeden Versuch ablehnt, die Geiselnehmer zu ermüden, zu spalten, zu isolieren: „Verhandlungen sind ein Eingeständnis der Schwäche“, sagt Putin.
Der Funke wird aus Zufall übergesprungen sein. Eine Bombe, die losgeht? Verzweifelte Eltern, die selbst in die Schule eindringen, um ihre Kinder mit ihren altertümlichen Büchsen zu befreien? Spezialkräfte, die bis an die Zähne bewaffnet sind, stürzen sich in die Lücke und schießen in die Menge. Die altbekannte Verachtung für das „Menschenmaterial“ – heute die Kinder, gestern die vergasten Zuschauer in einem Moskauer Theater – ist ein Erbe der Zaren und Stalins. Die Gewalt liegt bei der Zentralgewalt.
Als Putin 1999 in Tschetschenien einmarschiert, behauptet er, gegen 2.000 Terroristen anzutreten. Er schickt seine Bomber, seine Panzer und 100.000 Soldaten zur Eroberung eines Landes, das so groß ist wie Groß-Paris, bevölkert von kaum mehr als einer Million Menschen. Er schleift Grosny (400.000 Einwohner). Wenn ein solches Schlachthaus als Terrorbekämpfung gilt, muss man sich fragen, warum die Engländer nicht Belfast dem Erdboden gleich machten, die Spanier Bilbao und die Franzosen Algier zur Zeit von Ali La Pointe.
Die Rohheit des Geheimdienstes ist in Beslan wie in Tschetschenien gleichermaßen am Werk. „Einmal Tschekist, immer Tschekist“, so lautet das Credo des Kremlherrn. Die Tscheka, das ist die sowjetische Gestapo, der Vorgänger des KGB, der Vater des jetzigen FSB.
3. Wir sind ein aktiver Teil in diesem Desaster. Nicht eine westliche Regierung wagte es, die Verdienste dieses pyromanischen Feuerwehrmanns in Frage zu stellen, der es in fünf Jahren nicht schaffte, „die Terroristen bis ins Scheißhaus“ zu verfolgen, wie er einst versprach, obwohl er die Häuser, die Dörfer, die Städte in Brand steckte. Statt dessen verbreitete er das Chaos im Kaukasus nur weiter. – Europa und die Vereinigten Staaten geben ihm Carte blanche und streiten sich darum, wer sein bester Freund ist. Bestürzende Abdankung der Intelligenz.
Erinnern wir uns, dass sich in der Irakfrage zwei „Weltanschauungen“ gegenüber traten. Paris und das „Friedenslager“ behaupten, dass der Terrorismus ein Sohn des Krieges sei, den man um jeden Preis vermeiden müsse. Washington und seine Verbündeten proklamieren, dass die Unterdrückung als Ursache des Terrorismus zu gelten habe und die Freiheit die Mutter des Friedens ist: Ein Krieg in ihrem Namen kann somit notwendig werden. Alle wissen, dass die tschetschenische Bevölkerung um ein Fünftel oder gar ein Viertel reduziert wurde. Wem die Fantasie fehlt, dem sei gesagt, dass dieser Aderlass einem Verlust von 10 bis 15 Millionen Menschen in Frankreich entspräche. Tschetschenien erleidet den schlimmsten der zur Zeit auf der Erde geführten Kriege: 40.000 getötete Kinder, ohne Bilder, in Nacht und Nebel. Blutigste Willkür herrscht in diesem geschlossenen Gebiet, das die russische Journalistin Anna Politkowskaja als „Konzentrationslager unter freiem Himmel“ beschreibt, ein ganzes Land, abgeschnitten, den Kameras verboten. Nur ab und zu gelangen ein paar sehr mutige Journalisten hinein.
Eine schöne Gelegenheit für die beiden „Weltanschuungen“, ihre Geigen zu stimmen und die Prinzipien, auf die sie sich berufen, zur Anwendung zu bringen: Der Kreuzweg Tschetscheniens erfüllt beide Kriterien. Dreihundert Jahre Unterdrückung haben die Rebellion geschaffen. Und die Rohheit des letzten Krieges begünstigt die Entstehung des Terrorismus. Es ist mehr als dringend, Putin beim Ärmel zu packen, und ihm aus Paris zu erklären, dass sein Krieg und aus Washington darzulegen, dass seine Schreckenspolitik ein nihilistisches Chaos hervorbringen. Aber nein! Dahin, die großen Prinzipien! Die Vogel-Strauß-Politik triumphiert, Kopf in den Sand, die Mächtigen der Welt wollen nichts sehen.
Haben sie das afghanische Szenario vergessen? Zehn Jahre lang hat die russische – damals noch „rote“ – Armee ihre destruktiven Talente in Afghanistan entfaltet: das Territorium verwüstet, das Volk dezimiert, die sozialen, geistigen und moralischen Strukturen zersetzt. Im Chaos gewinnen die Kriminellen, die Fanatiker überhand, daher die Taliban, daher Bin Laden und Manhattan in Flammen.
Der blinde Westen hatte den Kommandanten Massud, der zuerst gegen die Sowjets, dann gegen die Islamisten kämpfte, im Stich gelassen. Den Irrtum hat man zu spät eingesehen. Man machte ihn zur Ikone … nachdem er tot war. In Tschetschenien gibt es einen gemäßigten Führer der Unabhängigkeitsbewegung: Aslan Maschadow hat die Attentate gegen Zivilisten immer verurteilt. Von Anfang an hat er bei der Geiselnahme von Beslan seine Abscheu bekannt und seine Hilfe angeboten. Die russischen Autoritäten haben den Sturm auf die Schule seiner Vermittlung vorgezogen. Wie Massud ist er ein guter Stratege, er hat die übermächtige russische Armee 1996 besiegt. Wie Massud ist er ein Held für sein Volk. Wie Massud ist er kein Heiliger, er hat eine Zeitlang den Irrtum begangen, sich im Namen der nationalen Einheit mit Extremisten zu verbünden. Seit zwei Jahren schlägt er einen Plan vor: Waffenstillstand, Entwaffnung der Unabhängigkeitskämpfer, Rückzug der russischen Kräfte, eine internationale Truppe zur Beobachtung und vorläufiger Verzicht auf die Forderung nach Unabhängigkeit. Ohne seine Hilfe gibt es keinen Ausweg. Sonst droht von russischer Seite die Auslöschung. Sonst droht von tschetschenischer Seite die Ausweitung des Nihilismus.
Wie soll man die Unverantwortlichkeit unserer Verantwortlichen erklären? Die demokratischen Regierungen können die rassistische Kriminalisierung einer ganzen Nation nicht akzeptieren: Alle Tschetschenen = Mörder = Bin Laden. Kennen sie deren Alltag des Schreckens, der Trauer, der Tortur, den Schrecken der „menschlichen Bündel“ (2), der Filtrationslager, der Menschenjagden und des Handels mit den Leichen und mit ihren Organen? Ja. Sie wissen das. Sind sie allzu vertrauensselig, um Putin zu entlasten und zu schlucken, dass er Friede und „Normalisierung“ im Kaukasus sät? Wissen sie, dass niemand einem entfesselten Tschernobyl entkäme? Ich kann nicht an so viel Dummheit bei den Fürsten glauben, die uns regieren. Und doch muss man vermuten, dass sie die Sorge für unsere Sicherheit dem Zauberlehrling aus dem Kreml überlassen. Hoffen sie, ohne es sich vielleicht allzu sehr einzugestehen, dass er die Tschetschenen ausrottet, bevor die Überlebenden mit dem nihilistischen Teufel paktieren? Eine solche Wette auf einen endlosen Krieg ist von bemerkenswerter Immoralität, stellt aber vor allem eine politischer Verirrung dar.
Nach so vielen Massakern und dem schwarzen Licht von Beslan spricht Putins Kriegsbilanz für sich: es ist die Bilanz eines chaotischen Schlachters, eines Fabrikanten der Apokalypse. Es ist Zeit, da Maschadow noch lebt, Putin zur Ordnung zu rufen, ihn laut und öffentlich aufzufordern, seine Methoden zu ändern.
Seit zehn Jahren misstrauen unsere Führer der moralischen Empörung. Seit zehn Jahren führen sie sich als Realpolitiker auf: Wegen Grosny wird die Welt schon nicht aufhören sich zu drehen, vermeiden wir Reibungen mit dem russischen Riesen, lassen wir die Illuminierten mit ihrer Moralinsäure allein. Pardon, aber ohne ethisches Prinzip gibt es keine langfristige Politik. Moral und Politik sind nicht auseinander zu halten wie unsere Duodez-Machiavellisten glauben. Die Politik der Airbusse und des Öls, der Verbeugungen und des „mir ist doch egal, wenn ein Volk ausgerottet wird“ führt nach Beslan . Das ist keine Politik, es ist Verblendung.
Sie spotten über die „Schönen Seelen“, zu denen ich mich zähle, da ich mit einigen wenigen Freunden den schwarzen, roten und grünen Faschismus bekämpfte, da ich Solschenizyn, Sacharow, Havel, Massud, die Boat people, die Belagerten von Dubrovnik und von Sarajewo, die Vertriebenen des Kosovo, die Massakrierten von Algerien, all jene „Machtlosen“ unterstützt habe, auf die die Realisten nicht einen Nagel wetteten. Meine sehr erbärmliche „schöne Seele“ sagt Ihnen: Man streicht nicht ungestraft ein Volk von der Karte, und sei es noch so lächerlich klein in den Augen unserer großen Nationen.
Andre Glucksmann Quelle: Le Monde Übersetzung: Thierry Chervel.
(1) GRU: Bassajew hat sich seine ersten Sporen in Abchasien und Georgien (1991 bis 92) verdient, wo er von den russischen Diensten rekrutiert und ausgebildet wurde. 1998/99 hat der Oligarch Boris Beresowski, Vertrauter Jelzins und später Wahlagent Putins, dem Gegner des Präsidenten Maschadow Koffer voller Geld überreicht – man spricht von zwei Millionen Dollar.
(2) Nach Berichten verschiedener Medien und Menschenrechtsorganisationen wie Newsweek und Memorial gehören die „menschlichen Bündel“ zu den Terrorpraktiken der russischen Soldaten. Mehrere Menschen werden gemeinsam zu einem „Bündel“ geschnürt und durch eine Sprengladung oder Granate umgebracht. Diese Technik erschwert eine Identifizierung der einzelnen Leichen. (A.d.Ü)