Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Identitäten

Das erweiterte Verständnis des „Islam In Europa“ setzt nicht nur eine umfangreiche Recherche, sondern auch aktives Reisen voraus. In Bulgarien fand ich unlängst ein weiteres Mosaiksteinen für diese Annäherung vor. Typisch dabei war die Begegnung mit verschiedenen Identitäten. Die größte originäre muslimische Gemeinschaft in Europa – mit über einer Million Muslime mit europäischem Pass, setzt sich aus bulgarischen Türken, Pomaken und Roma zusammen. Insbesondere die letzte Gruppe war auch mir als eine wichtige muslimische Bevölkerungsgruppe in Europa nicht wirklich bewusst.

Auf dem Weg von Sofia nach Shumen habe ich das Mittagsgebet in einer Roma-Siedlung. 25.000 Roms leben dort unter eher ärmlichen Verhältnissen, verrichtet. Der Gast aus Deutschland wurde dabei von der lokalen Gemeinde sehr freundlich aufgenommen. Die Gemeinschaft und ihre unterschiedliche religiöse Identitäten sind inzwischen Gegenstand von zahlreichen sozialen Aktivitäten und nicht zuletzt auch Ziel „biopolitischer“ Strategien verschiedenster Organisationen. Der Grund des Interesses an den Roma ist offensichtlich: In den nächsten Jahrzehnten werden sie vermutlich die größte Bevölkerungsgruppe in Bulgarien bilden.

Auf meinem Vortag in Shumen, vor 120 bulgarischen Imamen, und auf Einladung des Muftis von Bulgarien, sprach ich über die Präsenz der Muslime in Europa, ihren potentiellen Beitrag und ihre verschiedenen Perspektiven. Eine gute Gelegenheit, den (Weimarer) Gedanken der muslimischen Identität, unser Leben in Europa als Bürger, Goetheaner und Muslime aufzunehmen und vorzustellen. Dabei ging es auch um die Perspektive, den Islam nicht als eine bestimmte Kultur zu begreifen oder gar nur bestimmten Kulturen zuzuordnen, sondern als einen „Filter für Kultur“ zu beschreiben. Muslime sind insofern durchaus in der Lage, das Gute im europäischen Erbe zu erkennen und fortzusetzen.

Natürlich ging es dabei auch um die aktuelle Flüchtlingskrise. Ironischerweise haben sich sogar einige bulgarische Imame, die vor Ort einen Lohn von circa 250 Euro erhalten, inzwischen gen Deutschland verabschiedet. Wir Muslime beobachten dieses Phänomen der Flucht als Bürger in der Perspektive auf unsere Bürgerrechte, unserem Interesse an der Integrität des Staates, der ja Asyl gewährt und beteiligen uns zudem als Europäer aktiv an der Debatte über die Folgen der Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Als Goetheaner stehen wir gleichzeitig jedem Nationalismus fern und sind natürlich einer nationenübergreifenden Solidarität verpflichtet. Selbstredend erkennen wir aber auch in den Schicksalen und der Situation an sich die Rolle des Schöpfers. Im größeren Zusammenhang der Geopolitik kann auch die Dimension der global wirkenden Finanztechnik und die Einebnung der kulturellen Identität nicht ignoriert werden.

In Shumen habe ich mich auch für die osmanische Kultur und ihre identitätsstiftende Infrastruktur interessiert. In einem Treffen mit dem lokalen Mufti sahen wir uns dabei auch alte Stadtpläne an. Ganze Viertel der Stadt waren von Christen und Juden bewohnt, selbstverständlich unter der Gewährung der jeweiligen religiösen und sozialen Infrastruktur. Die osmanische Zivilisation, die die Stadt beinahe 500 Jahre lang prägte, war von Moschee, Markt, Stiftung und umfangreicher sozialer Infrastruktur geprägt.

Hier können wir europäische Muslime soziale Zusammenhänge nicht nur studieren. sondern auch neu erlernen, nicht zuletzt auch verstehen, wie eine kluge Städteplanung das Miteinander fördert und die Ideologisierung der Bevölkerung vermeidet. Es geht dabei darum nachzuvollziehen, dass der moderne Kontext „Moschee und Parkplatz“ wenig mit der ursprünglichen architektonischen Konzeption der islamischen Zivilisation zu tun. Wer eine ideologische Identität der Muslime vermeiden will, muss ihnen auch entsprechenden Raum zur Entfaltung ihrer sozialen Kompetenz zubilligen.