Seit dem 11. September stockt einem dem Atem, wenn man es wagt, Islam und Politik in einem Atemzug zu nennen. Allerdings ist es schwer, diese beiden Elemente chirurgisch voneinander zu trennen. Eine „Freitagspredigt“, die zum Beispiel die Mächtigen kritisiert, ist natürlich auch etwas Politisches. Aber auch in der westlichen Welt selbst, ist das Politische längst fragwürdig geworden. Den einen ist dabei das Ende des Politischen Recht, da es mit dem Ende der Geschichte und dem Endsieg der Demokratie und des Kapitalismus einhergeht. Den anderen ist das Politische fragwürdig geworden, da es nach Außen zu Kriegen und nach Innen zur Verfolgung des Anderen führen kann.
In der säkularen Welt hat das Wesen des Politischen, die Unterscheidung von Freund und Feind zu verheerenden Nationalstaatskriegen geführt. Die Existenz von inneren Feinden – im Extremfall von Terroristen – legitimiert im modernen Staat den Sicherheitsapparat und ermöglicht nach wie vor die Benachteiligung, im Extremfall die Verfolgung von Minderheiten. In Deutschland haben die Sozialdemokraten mit den Superreichen, die Konservativen mit den radikalen Ausländern ihre aktuellen „Feinde“ gefunden. Je mehr es an echten Alternativen und Entscheidungsmöglichkeiten mangelt, desto mehr stiftet der „Feind“ die Identität.
Die natürliche Begrenzung jeder Politik ist das Recht. Dieses Recht befindet sich aber in der Moderne – sei es als Völkerrecht oder als Gewährleistung von Bürgerrechten – in einer Krise. Die Industriegesellschaften werden heute, völlig unabhängig von ihrem religiösen Hintergund, zunehmend durch Oligarchen geprägt.
Unter dem Begriff des „Islamismus“ wird heute die Verkehrung des Islam hin zu einer politischen Ideologie verstanden. In seiner schlimmsten Form, dem Terrorismus, zeigt sich dabei eine offene Dominanz des Politischen über das Recht. Im Ergebnis lösen sich Recht und Politik auf. Der Muslim negiert nicht nur das offenbarte Verbot des Selbstmordes, er reißt auch sein Umfeld unterscheidungslos mit in den Abgrund und verzichtet – weil ihm nur noch sein eigener Körper bleibt – gerade auf ein politisches Ziel. Als per Definition integrierter Bestandteil des globalen Terrorismus rechtfertigt der „Terrorist“ inzwischen die weltstaatlichen Sicherheitsstrukturen.
Gleichzeitig entsteht auch in der westlichen Vorstellungswelt aus dem Gegensatz zum „bösen“ politischen Islam ein „guter“ politischer Islam. Der gute politische Islam sieht im Islam eine bloße Traditon, die nicht mehr in die moderne Welt der Technik oder Ökonomie einzugreifen vermag. Auch hier, beim „guten“ politischen Islam, dominiert die Politik, in der Form nach Annerkennung strebender, äußerster politischer Korrektheit, gegenüber dem Recht des Islam. Das Verbot des Zinses oder das Nehmen der Zakat spielen hier beispielsweise und notwendigerweise keine Rolle mehr. Stiftungen und Märkte, als die anderen soziale und ökonomischen Fixpunkte des islamischen Lebens, verkümmern.
Als organisierter Islam ist dieser Islam insoweit politisch-unpolitisch, als er der lokalen muslimischen Gemeinschaft das Recht nimmt, seinen Imam selbst zu bestimmen und die lokale Verteilung der Zakat selbst in die Hand zu nehmen. Die Zakatnahme wird im organisierten Islam als strukturelles Machtmittel entpersonifiziert und zentralisiert. Die Stiftungen und die Lehre werden in der modernen Verbandspolitik und im Gegensatz zu den Jahrhunderten islamischer Zivilisation politisch dominiert, beziehungsweise dem Machtspiel der Politik untergeordnet. Im Ergebnis stagnieren diese Moscheegemeinden nicht nur, es fehlt ihnen auch an Leben, sie neigen zur Ghettoisierung und Isolierung.
Die aktuelle Islamkonferenz ist nichts anderes, als der Versuch, einen guten politischen Islam zu definieren. Die individuellen Vertreter auf der Konferenz repräsentieren nicht etwa einen unpolitischen, sondern einen individualisierten Islam. Das ist ein Islam, der durch eigene Meinung gebildet wird. So bildet sich das politische Gegensatzpaar: organisiert – nichtorganisert. Folgerichtig gibt es auf der Konferenz keine ernstzunehmende muslimischen Vertreter der Lehre oder der Stiftungen.
Jeder politische Islam kann sich jederzeit in sein Gegenteil verkehren.
Mit der Bestätigung der Einheit kommt die europäische Philosophie dem Islam nahe. Viele europäische Philosophen hatten sich über die Jahrhunderte an der denkfeindlichen Doktrin der Trinitätslehre gerieben. Der typisch moderne Vorwurf an den Islam ist, dass er aus dem Denken der allumfassenden Einheit, eine moderne Ideologie gebären könnte. Diese ideologische Umsetzung verhindert aber im Islam das Recht und das Studium der überlieferten, praktischen Lebenserfahrungen der ersten Gemeinschaft in Medina. Jede Ideologie ist Menschenwerk und muss – ob das Ideologen wollen oder nicht – scheitern.
Zur „Politik“ des Islam in Medina gehört neben der Umsetzung des Rechts, auch der Charakter und das Verhalten der beteiligten Menschen. Das organische Zusammenleben ist gleichzeitig der Schutz vor Extremen, die den Konsens gefährden. Der moderne Ideologe, der seine Energie durch Feindschaft gewinnt, hat davon keine Kenntnisse. Zu dieser Art von Politik gehört auch die Liebe, das heißt das positive Handeln für Allah, getragen von der Preisung der Schöpfung.