Die nüchterne Ausgangslage in Zahlen: Mit 26 Millionen Anhängern zählt die römisch-katholische Kirche traditionell die meisten Mitglieder im Lande. Die Kirche musste in den vergangenen 15 Jahren allerdings erhebliche Verluste hinnehmen. Allein die römisch-katholische Kirche hat seit 1990 im Saldo etwa 2,1 Millionen Mitglieder verloren. Nur jeder siebte Christ geht überhaupt in die Kirche. Christliche Presseagenturen sprechen schon in düsteren Worten von der Islamisierung oder Säkularisierung Europas. Was wird also aus dem Christentum?
Zweifellos ist Papst Benedikt, ein moderner Katechon, nicht nur ein guter Redner, sondern er hat auch einiges intellektuelles Format. Ratzinger ist auch zu intelligent, um sich über die aktuelle Lage der Kirche Illusionen zu machen. Die Diskrepanz zwischen seiner Formentreue und der bunten Jugendschar in Köln war auch für ihn unübersehbar. Das Papst Benedikt das Missverständnis sieht und sich nur ungern selbst feiern lässt, spricht für seine Frömmigkeit. Wie verhält man sich eigentlich „christlich“ in eher dürftiger Zeit – das schien vielen jungen Teilnehmern, eher von Popkonzerten als von heiligen Messen geprägt, letzlich doch eingermaßen unklar. Ratzinger wurde nicht müde, seine Anhängerschar davor zu warnen, dass die Menschen sich vom christlichen Ritus weiter abwenden und individuell ihre eigene Religion „machen“ könnten. Diese Sorge über die religiöse Selbstauflösung unter dem Druck des Säkularismus kann man auch als Muslim durchaus nachvollziehen.
Für die absolutistische Kirche ist der Zerfall der Kirche eine besonders unangenehme Vorstellung und das absehbare Ende ihrer Macht. Daran ändert auch der Kölner Weltjugendtag nichts. „Die Ent-Christianisierung überwindet man nicht mit dem Applaus derjenigen, die schon überzeugt sind“, brachte es der «Corriere della Sera» auf den Punkt. Die christlichen Wurzeln Europas sieht Ratzinger dabei nicht ohne Grund in Gefahr. Als ich zum ersten Mal europäische Muslime traf und nach meinem Verhältnis zur Welt befragt wurde, sagte ich meiner damaligen Überzeugung entsprechend: „Es gibt keinen Gott“. Zu meinem Erstaunen antwortete man mir von muslimischer Seite gelassen: „Ja, das ist der erste Teil unseres Glaubensbekentnisses. Es gibt kein Gott, außer Allah“.
Viele Aspekte der christlichen Lehre und ihrer Dogmatik sind zweifellos dem europäischen Denken völlig fremd. Wenn Kardinal Meissner davon spricht, dass am Kirchentag zwei Päpste anwesend waren – einer, der vom Himmel blickt und einer, der physisch da ist, dann ist zumindest das kritische Denken von Erwachsenen herausgefordert. Teilweise wird in der europäischen Philosophie die christliche Metaphysik sogar als eine Art geschichtliche Vorstufe des Nihilismus gedacht. Darüber kann man nachdenken.
Eines ist dabei sicher: Große Repräsentanten des europäischen Denkens, von Nietzsche über Goethe und Rilke bis Heidegger, haben einmütig die Trinitätslehre des Christentums abgelehnt und waren vielmehr auf der Suche nach der verlorenen „Einheit“. Goethe, der auf seiner Beerdigung bekannterweise keinerlei christliche Symbole zuließ, hat gerade als universeller Denker den Islam gefunden und begrüßt. Gottlos waren diese großen Europäer aus islamischer Sicht jedenfalls nicht.
Besonders aber auch die historische Nähe des Christentums zur weltlichen Macht hat das Denken in Europa immer wieder beschäftigt. Immer wieder beklagte Papst Joseph Ratzinger den Mangel an Religiosität in unserer Zeit und stellte zu Recht fest: «Heute gibt es in großen Teilen der Welt eine merkwürdige Gottvergessenheit.»
Intellektuell verweist er mit guten Gründen auf die Gefahr eines neuen Totalitarismus der menschlichen Vernunft, einer Herrschaft des Menschen, der alles in die Hand nimmt und alles für machbar hält. Das Denken in Werten, welches diese Epoche kennzeichnet, stammt dabei selbst aus der Ökonomie. Dabei ist inzwischen, so will man hinzufügen, die Souveränität und Freiheit des Menschen durch die globale Herrschaft von Ökonomie und Technik zutiefst in Frage gestellt. Die mögliche Erosion des Rechtes, man denke an Kirchenrecht, islamisches Recht oder Völkerrecht, ist ein weiteres Indiz für diesen Vorgang. Nur, wer ist Adressat dieser Botschaft – die frierende Pilgerschar, der muslimische Arbeitervertreter oder aber die moderne Politik?
Auch in Köln ist diese historische Nähe der Kirche zur Macht nicht zu übersehen. Symbolisiert wird dies durch einige Treffen mit Politikern, so mit dem Bundeskanzler, einem bekennenden Atheisten, und der Vorsitzenden der CDU, Angela Merkel, deren Partei und sie selbst kaum noch die gewichtigen Dogmen des Christentums programmatisch verkörpern. Die Abschlussworte des Bundespräsidenten Köhler bei der Verabschiedung des Papstes sind zwar spürbar herzlich, aber auch er steht – wenn man ehrlich ist – im beruflichen Alltag bisher eher für die umstrittene Politik des Internationalen Währungsfonds als für eine christliche Heilslehre.
Das Verhältnis von weltlicher Macht und Christentum beschäftigte beispielsweise auch den Philosophen Martin Heidegger zeitlebens. Vielleicht ist der Schwarzwaldphilosoph dabei zu grob, wenn er schreibt: „Die Kläglichkeit des Christentums zeigt sich darin am deutlichsten, daß es zwischen unbedingten Machtpositionen hin und her pendelt und je nach Bedarf der einen oder anderen noch ihre Dienste anbietet. Hier wird auch erkennbar, daß im Bereich des hinschwindenden Christentums niemals eine Entscheidung über die Gottschaft der Götter fallen kann. Sie kann nicht einmal geahnt werden.“
Aber zurück zur menschlichen Verantwortung im Hier und Jetzt. Anlässlich des „Internationalen Tages der Jugend“ am 12. August 2005 berichtete UNO-Generalsekretär Kofi Annan, dass es beinahe drei Milliarden Menschen auf der Welt gebe, die jünger als 25 Jahre seien. Mehr als eine halbe Milliarde von ihnen lebe von weniger als 2 Dollar (1,61 Euro) pro Tag, sagte Annan. Weiterhin berichtete der UNO-Generalsekretär, dass täglich fast 30.000 Kinder durch Armut sterben. Außerdem würden 100 Millionen Kinder im Schulalter keine Schule besuchen, so Annan. Wenn man jung ist, wenn man denkt, wenn man nach echter Orientierung sucht in einer Welt, in der die „Wüste wächst“, will man wohl von seiner Religion vor allem das Folgende wissen: Was steht also genau im Kern der Botschaft meiner Kirche angesichts der ökonomischen Totalvernutzung der Erde, dem Terror des Hungers und der Zerstörung der Schöpfung? Genügt es mir, über eine moralische Renaissance zu sprechen, und das Land mit Lichterketten zu überziehen, angesichts der Machtergreifung des global strukturierten Kapitals?
Hier, wenn es um das Verhältnis von Glaube und Ökonomie geht und den Kapitalismus als der wirklich konkurrierenden neuen Weltreligion, hätte es sich in Köln spannend zwischen den Eliten der Konfessionen debattieren lassen. Die eigentlich brennende Frage sollte aus Sicht von Gläubigen nicht so sehr die Reformation der Religionen, wohl aber die dringliche Reformation des Kapitalismus sein. Diesen „New Deal“ weist nicht nur der Papst zurück: Sexuelle Freiheit für den Einzelnen, ökonomische Versklavung für die Allgemeinheit. Die Erscheinung des chinesischen Kapitalismus zeigt hier deutlich, wohin die Gesetze des Marktes führen. Das 21. Jahrhundert wird, so zumindest Vordenker Peter Sloterdijk, zum Labor des Neu-Autoritarismus, das heißt des Kapitalismus, der die Demokratie nicht mehr nötig hat. Kann es sein, dass uns die geistigen Architekten des Weltkapitalismus in die Weltecke der Religionen verbannen wollen, wo wir als Religionen zwar gleich nett, aber auch gleich falsch sein sollen?
In der Frage der Ökonomie zeigt sich heute die Relevanz. Die Armut und die Armen sind Teil unseres christlichen und islamischen Erfahrungshorizonts. Gerade dem muslimischen Intellekt bleibt aber vor allem das moderne Verhältnis der Kirche zum Kapitalismus spannungsvoll und ungeklärt. Der Qur'an ist in dieser Frage konkret, bestätigt Eigentumsrecht und die Freiheit des Handels, aber auch das Verbot der Zinsnahme. Nichts für ungut, aber die aktuelle Botschaft der Kirche zu den ökonomischen Herausforderungen und Abgründen dieser Zeit bleibt in Köln dagegen doch mehr als vage. Es schien, als sollte am Rhein vor allem viel gesungen werden.
Natürlich suchen Muslime das Gespräch mit Christen. Große Teile der Terminologie dieser Gespräche können ja nur aus dem Christentum verstanden werden, denn alle politischen Begriffe sind am Ende „säkulariserte theologische Begriffe“. In der Geschichte des Islam, zumindest solange die Muslime nicht ideologisiert waren, gab es dabei immer auch die selbstbewusste Einladung zum Islam. Diese Einladung und die Freude über die letzte Offenbarung an den Menschen hat sich in der Moderne leider eher verflüchtigt. Man lädt seine Nachbarn oder Landsleute zum Islam ein, weil man weiß, was der Islam ist und weil man seine Nachbarn schätzt. Es gehört ja zu den abgründigen Zeichen des modernen Terrors, dass man nicht etwa einladen will, sondern vernichten.
Was bleibt? Aus muslimischer Sicht ein kurzes Treffen, organisiert von einem Verband, der ähnlich „absolutistisch“ denkt wie die Kirche selbst und ironischerweise gerade den Nationalismus pflegt, den der Papst so engagiert ablehnt. Der Eindruck der bei dem Treffen ohne deutsche oder bosnische Muslime entstand war einigermaßen fatal: der Islam ist die Religion der Immigranten, das Christentum die Religion Europas! Die teilnehmenden Muslime müssen sich fragen, ob sie hier nicht in einem politischen und eitlen Machtspiel benutzt wurden. Es wäre auch, wenn man schon die Gelegenheit hat (und auch etwas sagen darf), interessant gewesen, den Papst nach der Rolle des amerikanischen Christentums zu befragen, dessen Einfluss auf den Feldzug gegen den Terror, der bisher zehntausende unschuldige Muslime das Leben gekostet hat.