„Diejenigen, die restlos in ihrer Epoche aufgehen, die in jedem Punkt mir ihr übereinstimmen, sind nicht zeitgenössisch, weil sie gerade deshalb nicht sehen, nicht beobachten können.“ (Giorgio Agamben)
Keine Regierung in Rom? In dem Städtchen Salsmaggiore Terme spürt man wenig davon. Hier geht alles, auch ohne eine Regierung, seinen gewohnten Gang. Die Geschäfte – wie einige leerstehenden Hotels in dem einst mondänen Kurbad künden – gehen schlecht. In den Cafes empören sich viele einfache Italiener über die Hoffnungslosigkeit der Lage. In der kleinen Stadthalle halte ich am Wochenende einen Vortrag über die Rolle des Politischen im technologischen Zeitalter.
In Italien wird wie überall in Südeuropa und kurz nach der Wahl der augenscheinliche Souveränitätsverlust der politischen Institutionen kontrovers diskutiert. Die Europäische Union hat einen denkbar schlechten Ruf und nicht zufällig hat die Protestpartei des Beppe Grillo in kürzester Zeit Millionen Wähler gegen den Euro, das aktuelle Symbol der Union, mobilisiert.
Nur: „Das quo vadis Italien?“ schlüssig mit einem alternativen Modell zu beantworten, fehlt auch der neuen Parteiung schwer. Die Lösung, einfach nur wieder die alte Papier-Lira einzusetzen, greift auch für viele Italiener zu kurz. Es ist vielleicht Zeit, so mein Punkt, die Geschichte des Politischen neu zu überdenken. Nach der Machtverschiebung vom Politischen zum Ökonomischen, die das überfällige Ende der Ideologien kennzeichnet und das letzte Jahrhundert auszeichnet, ist besonders der Blick auf das „Nation Building“ in Europa lehrreich. Sie hat das Bild des Politischen und des Politikers schließlich entscheidend geprägt.
In Deutschland ist dies mit dem Namen Bismarcks und dem Konflikt um den Einfluss von Parlament, Diktatur und Monarchie verbunden. Die doppeldeutige Figur Bismarcks ist bis heute Symbol des politischen Machers, der das Schicksal in die Hand nimmt. De facto war er natürlich auf eine lange Kette unbegreiflicher Zufälle oder, wenn man den Glauben nicht verloren hat, auf die andauernde Gunst des Schicksals angewiesen. Drei Kriege besteht Bismarck auch, weil es ihm gelingt, die Finanzierung der kriegerischen Expansion mit Hilfe der Kredite aufstrebender Banken zu sichern. Der Siegeszug der Nation ist mit einer andauernden Expansionsbewegung verbunden. Sie verläuft zu Gunsten industrieller Kreise und einiger wichtiger Familien, die davon profitieren.
Später soll einer der Nachfolger Bismarcks, Reichskanzler Hindenburg, das Ende der Monarchie vollziehen und auch die charismatische Figur sein, der die Zustimmung der Massen zufliegt. Hindenburg gelingt es, einen Mythos als „Heeresführer“ zu schaffen, nicht zuletzt mit Hilfe von Medien wie der Malerei, die sein inszeniertes Bild vom souveränen Kriegsfürsten in die Städte bringt. Tatsächlich war eine Fiktion, er hat die besungenen Schlachten nicht wirklich selbst geführt, sondern General Ludendorff. Die Massen werden so aber an die absurde Idee absoluter Führung herangeführt. Eine Episode später sind Parlament und Monarchie zugunsten von Partei und Führer abgewickelt. Der Untergang in das selbstzerstörerische Reich der Deutschen folgt.
Der alte politische Streit zwischen zwischen Parlament, Diktatur und Monarchie wiederholt sich heute zwischen Damaskus und Ryadh. Die Option der Abschaffung von Parlament und Monarchie zu Gunsten allmächtiger Parteien und Diktatoren ist eine Option, deren Vollzug jederzeit möglich scheint. Die pseudo-islamischen Republiken und ihre durch den Säkularismus verstärkten inneren Gegensätze führen nicht zufällig an die Klippen des Bürgerkrieges. Der politische Albtraum des Bürgerkrieges, wo ist er besser beschrieben als bei dem Römer Lucan?
Sollten den Bürger dennoch der Weg in die „echte“ Demokratie beschert sein, dann stellt sich auch in Damaskus, Tunis oder Kairo die Frage, die gleichzeitig die alten Demokratien Europas bewegt: Wie kann die Macht des globalen Kapitals beschränkt werden? Es bleibt ein Dilemma des arabischen Modernismus, dass er die politischen Instrumente Europas kopiert, ohne die Erfahrungen der Europäer, von der Römischen Republik bis zur Europäischen Union, wirklich nachzuvollziehen.
Dieser Mangel – bis hin zu Missverständnissen über das Wesen des modernen Staates überhaupt und der Unmöglichkeit, ihn als Phänomen des Politischen per Handstreich zu „islamisieren“ – setzt sich bis heute fort. Der moderne Staat hat eine Geschichte. Selbstredend bleibt auch die Geschichte der Finanztechnologie, die sich aus den europäischen Banken entwickelt, eine unbekannte Größe.