Seit Menschen denken, beschäftigt sie das Phänomen der Schönheit. Warum findet man etwas schön, unter welchen Voraussetzungen erfahren wir das Schöne und wie stehen wir heute zu den Werken der Klassik? „Wer mit dem Schönen und Göttlichen umgeht, wird selbst schön und göttlich“, lehrte Platon. Nach seiner Philosophie erkennt der Mensch das Erhabene in sich und Anderen, dann in den Seelen und so findet er zu der übergeordneten, allgemeinen Idee des Schönen. Über viele Jahrhunderte waren diese Erfahrungen mit der Existenz des Göttlichen verknüpft. Bis in die moderne Dichtung war dieser Leitgedanke stets präsent. „Alle, die in Schönheit gehn, werden in Schönheit auferstehn“, heißt es in einem Gedicht Rainer Maria Rilkes.
In der heutigen Zeit, geprägt von der Entzauberung der Welt, sind die gewohnten Begriffe kompliziert geworden. Die Erfahrung des Schönen, die Beschreibung der Schönheit dreht sich um die Frage, ob sich das Phänomen allein aus der subjektiven Bestimmung des Individuums oder aus objektiven Kriterien heraus ableiten lässt. Die moderne Kunst spiegelt diese Verunsicherung, die mit den scheinbar allgemein gültigen Eigenschaften der Ästhetik einhergehen. Sie bietet keine verbindliche Definition an, sondern fordert auf, über das Wesen des Schönen nachzudenken. Die Objektivisten vertreten in diesem Kontext die Ansicht, dass Schönheit ein geistesunabhängiges Merkmal der Dinge ist. Die Gegenposition ist der Auffassung, dass der Einzelne oder eine Gruppe von Menschen dieses Urteil fällen.
Die Debatte um diese Fragen reicht weit zurück in die deutsche Geistesgeschichte. Ästhetische Urteile basieren nach Kant auf privaten, subjektiven Empfindungen des Gefallens oder der Abneigung, der Lust oder Unlust. Schönheit sei eine „Zweckmässigkeit ohne Zweck“. Der Philosoph stellt fest: Über das Angenehme lässt sich nicht streiten, denn jeder empfindet etwas anderes als angenehm. Ästhetische Urteile dagegen sind zwar persönlichen Ursprungs, sie haben jedoch Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Nach dieser Logik bedeutet es, über die Schönheit eines Gegenstandes zu richten, zugleich, ein Urteil zu fällen, dem auch andere zustimmen müssten. Die Kunst und der mögliche Konsens über das Schöne und Wahre, wird zu der eigentlichen kulturstiftenden Kraft einer Epoche. Sie tritt damit zunehmend in Konkurrenz zur Religion.
Für Schiller ist die Kunst eine Tochter der Freiheit. „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf, leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben“, schreibt er in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung. Für den Dichter ist der Mensch ganz Mensch, wo er spielt, dichtet und erschafft und sich in seiner Freiheit von persönlichen Begierden, aber auch von den Machenschaften und den Zwängen des Politischen fernhält. Die Anschauung des Schönen schafft einen mittleren Zustand, in einer glücklichen Mitte zwischen den Gesetzen der Gesellschaft und den Bedürfnissen des Einzelnen. Seine Maximen führen ihn von der Schönheit zur Wahrheit und schließlich zur Pflicht. „Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur, er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem Moralischen“, fasst Schiller seine Philosophie zusammen.
Wie kommt man aber in diesen Zustand? Der freie Mensch lässt sich möglichst unvoreingenommen von den herrschenden religiösen Überzeugungen auf die Objekte ein. In den Mittelpunkt der Erfahrung rückt dabei der Betrachter selbst, der, in aller Offenheit, seinen Blick auf das Ding an sich richtete. Der chinesische Maler Wang Yüan Ch’i ermahnte seine Schüler, die das Wesen einer Kiefer erfassen wollten, von der Kiefer selbst zu lernen. Dabei sollte nicht ihr Ego für eine Abwägung oder Kategorisierung gebraucht werden. Die Aufgabe war es vielmehr, in das Objekt einzudringen, bis ihnen ihr unergründliches Wesen offenbart wird. In seinem Text „Über die Seele“ (1917) ergänzt Herman Hesse, dass nur mit einem Schauen, das reine Betrachtung ist, die Seele der Dinge, also ihre Schönheit, erscheint. Diese Phänomenologie erlaubte eine Form der religiös anmutenden Erfahrung, ohne sich gleichzeitig auf eine konkrete Religion einzulassen.
Die moderne Kunst stellt mit dem Ende der Metaphysik und ihrer allgemeinverbindlichen Gewissheiten zunehmend die traditionellen Konventionen und Ursprünge der Welt in Frage. Françoise Gillot, Lebensgefährtin des spanischen Künstlers Picasso, berichtet („Mein Leben mit Picasso“) über das Kunstverständnis des Malers. Für ihn sei die Kunst der Griechen von ihren gemeinsamen Regeln und Traditionen bestimmt gewesen, diese Überzeugungen gerieten in Vergessenheit, es begann der Individualismus, der Impressionismus und damit das Ende der klassischen Malerei. Die Werke verstanden sich nicht mehr als Lobpreisung des Göttlichen, sie drückten eine individuelle Erfahrung aus. Die Kunst wurde zur Religion des Säkularen. Was sich dem Menschen in den Kunstwerken offenbarte, war nicht unbedingt Ausdruck der Nähe zu der Existenz eines Gottes oder einer transzendenten Idee.
Spätestens seit den Erfahrungen der Weltkriege verstanden sich die Künstler als Teil einer revolutionären Kraft. Ihre Überzeugung war es, dass eine wahre Kunst die erlebte Zerstörung durch die Ideologien reflektieren müsse. Pablo Picasso verewigt diese Sicht mit seinem Bild über Guernica, einer von einem deutschen Luftangriff zerstörten Stadt. Dadaisten und Surrealisten kämpften gegen das bürgerliche Verständnis der Kunst an. Die Entfernung zu den Ursprüngen aller Werke war nicht mehr zu übersehen.
In der Malerei, in der Dichtung, in der Musik wurde experimentiert, provoziert und schockiert. In den Museen trafen die Menschen auf Kunstwerke, die die Sehgewohnheiten vergangener Jahrhunderte in Frage stellten. Das Bürgertum empörte sich über die Zumutungen oft mit der Klage: Das ist nicht schön! Die Künstler selbst wurden Teil einer Avantgarde, ihre Werke mutierten nur wenige Jahrzehnte später zu teuer verkauften Konsumartikeln. Die Kommerzialisierung der Kunst war nicht aufzuhalten. „Kunst hat immer die Kraft, Menschen zu begeistern und kulturelle und geistige Transformationen zu beflügeln. Das wird aber nicht gelingen, solange der Kunstbetrieb total kommerzialisiert ist und sich, was Kunst ist, nicht durch Schönheit, sondern durch seinen Marktwert definiert“, kritisiert der Philosoph Christoph Quarch diesen Trend. Auch wenn immer mehr Museen gebaut werden, der Traum einer revolutionären, weltverändernden Kunst gehört heute längst der Kunstgeschichte an.
In der islamischen Welt war über Jahrhunderte die Kunst traditionellen Normen unterworfen. Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom hielt das muslimische Kunstverständnis zunächst für unmenschlich. „Es gibt kein Gesicht und keine Gestalt, an denen man sich festhalten kann, die Religion lässt keine menschliche Darstellungen zu, diese Kunst ist nichts als Form, Konstruktion und Geometrie.“ Später erkannte er bei einem Besuch der Alhambra in Granada eine andere Dimension, er entdeckte in den Verzierungen, den Arabesken, eine Schrift und damit einen Raum, der sich mit fließenden Worten selbst beschreibt. Auf diese Weise ergriffen, ahnte er, dass nicht nur die Menschen Reisende sind, sondern ebenso der Kosmos und die Buchstaben in steter Bewegung sind. Die Schönheit dieser Erfahrung spiegelt sich in jeder Zeile, die dem Dichter in seinem Text („Der Blinde und die Schrift“) zufließen.
Navid Kermani beschreibt in seinem Buch „Gott ist schön“ die Ästhetik des Islams und verweist darauf, dass der Qur’an selbst Zeugnis über seine ästhetische Wirkung gibt: „Gott hat herabgesandt die schönste Kunde“ (Az-Zumar, Sure 39, 23). Für Kermani dominieren die ethisch-moralischen und für die Gesetzgebung und die gesellschaftliche Normgebung relevanten Elemente den heutigen Eindruck über das Leben der Muslime. Der Qur’an ist keine Poesie, aber die Erfahrungen der Schönheit, insbesondere die Harmonie der Rezitation, gehört zu einer ganzheitlichen Lebenspraxis dazu. „Im kulturellen Gedächtnis der muslimischen Gemeinde tritt ihr Verlangen, den Koran zu hören, als ein ästhetisches auf, wird davon ausgegangen, daß es – nicht allein, aber doch als ein wesentlicher Faktor, die sprachliche Gestalt des Textes war, die auf die Zeitgenossen Muhammads wirkten“, schreibt er. In vielen Moscheen, unabhängig davon, ob die Gläubigen arabisch-sprachig sind oder nicht, ist das Wunder dieser Vermittlung heute zu beobachten. Liebe und spirituelle Erfahrungen sind für Kermani aus dem Mittelpunkt einer maßvoll ausgeübten Religion nicht wegzudenken. Ohne den Bezug zur Schönheit, argumentiert der Schriftsteller, droht die islamische Lebenserfahrung in einem kalten System von Gesetzen zu erstarren. Hier mag man sich wieder an die Philosophie Schillers erinnern und an seine Mahnung, die Lebenskunst und die Freiheit in ihrer Einheit zu verstehen. Unter den Verhältnissen des Zwanges entfaltet sich keine Schönheit.
Wer auf der Reise nach Mekka die Millionen Pilger gesehen hat, die um das Haus Allahs kreisen, wird dies mit dem Begriff der Harmonie verbinden. Mensch, Schöpfung und Schöpfer bleiben aufeinander bezogen. Es ergibt sich eine Gestalt, die aus mehr besteht als nur aus ihren Teilen. In ihrem Grundkern wirkt die ästhetische Erfahrung unverändert fort. In Qadi Ijads „Asch-Schifa“ findet sich ein Kapitel zur Schönheit des Propheten. Seine Erscheinung wird darin detailliert beschrieben und eine Beschreibung des Abu Huraira wiedergegeben: „Nie habe ich etwas Schöneres gesehen als den Gesandten Allahs! Es war, als strahle die Sonne aus seinem Gesicht, und wenn er lachte, strahlte es zurück von den Wänden.“
Der Text ist in Ausgabe 316 der „Islamischen Zeitung“ erschienen.