Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Lampedusa

Der italienische Philosoph Agamben weist schon länger auf einen Abgrund der Moderne hin: Das Konzept der Menschenrechte, die ja nur als Bürgerrechte wirklich justiziabel sind, ist für ihn mit dem modernen Nationalstaat und seinem Abstammungsprinzip verbunden. Das Problem heute ist die latente Auflösung der Nationalstaaten und die damit verbundene Krise des Rechts. Die brutalen Bilder aus Syrien bestätigen, dass die Idee von Menschenrechten – ohne das Konzept nationalstaatlicher Ordnung – eine Fiktion sein könnte. Auch muslimische Kämpfer nutzen den gegebenen „Freiraum“ zur Etablierung der Rechtlosigkeit; bis hin zur Praxis einer im Islam bisher unbekannten Brutalität.

Flüchtinge, die nachts neben ihren gekenterten Booten auf dem Mittelmeer treiben, verfügen ebenfalls nur noch über das „nackte Leben“ und sind längst Mächten ausgesetzt, die in ihrem Fall jenseits der Logik von Gerichtsverfahren agieren. Ihre Reisefreiheit verhindert ein technisches „System zur Überwachung von problematischen Menschenströmen“. An der misslichen Lage ändert auch der zynisch klingende Verweis des italienischen Premiers Letta nichts, der nach der Katastrophe tröstend erklärte: „Alle Opfer seien nun italienische Staatsbürger.“ Vor den Außengrenzen unserer Komfortzonen fristen nach wie vor tausende Flüchtlinge (nicht weit von den Orten, in denen zahlungskräftige Urlauber ihre Lager aufschlagen) ihr Dasein in eingezäunten Gefängnissen, die, so Agamben, ihrem Wesen nach Orte ohne Ordnung sind.

Aus Sicht Giorgio Agambens geht es bei dem Flüchtlingsproblem nicht nur um ökonomische Fragen der Aufnahmefähigkeit, sondern um die generelle Rolle des Rechts der Menschen in der Moderne. Dieses Phänomen sollte uns auch auf unserer „Seite“ der Zäune sorgen. Das Phänomen des Lagers oder der Status des „nackten Lebens“ kann uns auch im Altersheim, in den Gefängnissen oder an einer Grenzkontrolle treffen, wo unsere Daten verwechselt werden. Ein eigenes Thema ist die gängige Überwachung durch privatisierte Geheimdienste, die jenseits der Hegung von Staaten verdächtigen und unsere Existenz „zur Sicherheit“ zu Protokoll nehmen.

Vielleicht bieten diese Überlegungen auch Anlass, den Ruf nach „doppelter Staatsbürgerschaft“ mit neuer Skepsis zu begegnen. Es geht dabei um mehr als nur um die Abwägung spezifischer technischer oder ökonomischer Vor- oder Nachteile, die mit der nationalen Zugehörigkeit einhergehen. Bedenklich wäre es, wenn dieser „halbe“ Status auf Dauer zu eingeschränkten Rechten in beiden, die Rechte verbriefenden Nationen führen sollte. Man wäre dann im schlimmsten Fall auf beiden Seiten kein voll anerkannter „deutscher“ Staatsbürger.

Gerade in Deutschland wäre es für uns Muslime aber wichtig, voll und ganz darauf zu pochen, dass wir Bürger mit vollen Rechten und einem unserer Lebensform entsprechenden Status sind. Zur Nachhaltigkeit dieser Forderung würde es passen, dem Land, dem wir Solidarität versprechen, auch mit unserer ganzen Absicht und bei jeder Wetterlage voll und ganz anzugehören. Gemeinsam könnte man dann dafür eintreten, dass die Eigenschaft „deutscher Staatsbürger“ mit Rechten verbunden bleibt, die mehr ist als nur eine Abstammung und jenseits der Religionszugehörigkeit definiert wird.