„Der Bundesregierung liegen „keine detaillierten Informationen über Angriffe der libyschen Luftwaffe auf Zivilisten vor“. Es gibt auch keine Belege, dass die libysche Luftwaffe sich nicht an die Zusagen eines Waffenstillstands gehalten hat oder überhaupt flächendeckend und systematisch zur Bombardierung von Zivilisten eingesetzt wurde.“ ( Aus Telepolis, „Kriegslügen und die Erosion des Völkerrechts“)
Es sind zwei grundsätzlich gegensätzliche Phänomene: Fernsehen und Erfahrung beziehungsweise Nah- und Ferndistanz. Gerade in Kriegszeiten wird uns dieser Unterschied schmerzlich bewusst. Notgedrungen begründen wir ja unsere Ansichten und Meinungen zumeist aus Bildern, die uns das Fernsehen liefert. Fernsehbilder vermitteln uns geschickt die Illusion, wir seien nur als neutrale Beobachter am Geschehen beteiligt.
Mehr noch: Das Fernsehen entscheidet für uns, welche Perspektiven überhaupt gewählt oder welche Dringlichkeiten zugelassen werden. Eine „Erfahrung“, die wir mit der Wirklichkeit machen, hat ganz andere Bedingungen als das Fernsehen. Wir müssen an den Ort des Geschehens reisen, Gespräche führen, um die Wahrheit ringen und – wie die aussterbende Spezie der abenteuerlichen Kriegsjournalisten – dabei auch einige Risiken auf uns nehmen. Wer auf diese Weise einen größeren Erfahrungsschatz sein eigen nennen darf, wird mit dem vorschnellen Urteilen vorsichtiger sein als jeder Fernsehzuschauer.
Auf einer Hauswand fand sich neulich ein ironischer Satz, der doch treffend den merkwürdig entfremdeten Status des heutigen Fernsehzuschauers bestimmt: „Stell dir vor, es ist Krieg und der Fernseher ist kaputt.“
In Zeiten der Unruhe – wie wir sie gerade wieder in den arabischen Staaten erleben – spielt das Fernsehen eine beinahe magische Rolle und ist die beherrschende Technik, dank derer wir Geschichte mitverfolgen. Oft täuschen natürlich die Bilder, die uns vorgesetzt werden. Nicht selten werden sie wie Theaterstücke in Szene gesetzt. Nach der Aufklärung über die abgründige Kriegspropaganda im Vorfeld des letzten Irakkriegs, hätte man erwartet, dass hierzulande mit etwas mehr Vorsicht den offiziellen Verlautbarungen gegenüber getreten wird.
In Europa scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein. Nicht nur das deutsche Fernsehen sendet die Bilder aus der Krisenregion mit einer gewissen Einfalt. In Abgrenzung zu wackligen YouTube-Bildern, die als „nicht nachprüfbar“ präsentiert werden, präsentiert sich das Staatsfernsehen als seriöse Quelle. Das Prinzip der Subjektivität ist aber das Gleiche wie beim Internet-TV; auch wenn die Bilder nicht wackeln. Das Fernsehen unterlegt zumeist die herrschende Meinung mit dem passenden Bild und produziert so die gewünschte Wirklichkeit.
Interviews, die verschiedene Interpretationen oder unterschiedliche Ansichten über das Kriegsgeschehen in dem einen oder anderen Wüstenstaat vorstellen, sind in unserem Fernsehen Mangelware. Die Fernsehsender präsentieren lieber vorgefertigte Bilder von Freund und Feind. Neutralität und Distanz ist in Zeiten „gerechter“ Kriege an sich dubios geworden. Libyer, die neutral bleiben – also weder für Gaddafi noch für die NATO-Intervention sind –, scheinen nach unserer Berichterstattung undenkbar.
Das geht bis in die Details. Streubomben setzt immer nur die „bösen“ Gegner ein. Die moralische Komponente, die das westliche Eingreifen in Lybien rechtfertigen sollte, wird durch die gleichzeitige Zurückhaltung gegenüber der Lage in Syrien konterkariert. Moralische Empörung ist nicht wirklich das Kriterium für Intervention. Zur aktuellen Lage in Kashmir oder Usbekistan finden sich keine Bilder und für die dortigen Menschen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Zur Macht des Fernsehens gehört es auch, Bilder nicht zu senden.
Die kulturelle Bedeutung des Fernsehens als dominante Informationsquelle nimmt zweifellos stetig zu. Eine Zeit lang versuchte der Intellekt noch, die Rolle des „Kasten“ herunterzuspielen. Es sei nur „das einzige Schlafmittel, das mit den Augen eingenommen wird“, kommentierte der Schauspieler Vittorio de Sica noch in den 1970er Jahren. „Am zuverlässigsten unterscheiden sich die einzelnen Fernsehprogramme noch immer durch den Wetterbericht“, kalauerte Woody Allen später.
Es gab aber auch ernstere Stimmen, die die fatale Wirkung des Fernsehens nicht herunterspielten. „Das Fernsehen macht aus dem Kreis der Familie einen Halbkreis“, stellte der deutsche Schriftsteller Rolf Haller über die Wirkung des Kasten lapidar fest. Diese Beobachtung kann man man heute in vielen Häusern machen, wo der Fernseher den Tisch, und vor allem das Tischgespräch ersetzt.
Schlimmer noch, „das Fernsehen sorgt dafür, dass man in seinem Wohnzimmer von Leuten unterhalten wird, die man nie einladen würde“, beschrieb Shirley MacLaine die neue Idylle in Millionen von Wohnzimmern in aller Welt. Das Fernsehen relativiert so gleichzeitig den Gegensatz von Privatsphäre und Öffentlichkeit.
In einer aktuellen Vodafone-Umfrage gab eine Mehrheit von Lehren in Europa an, dass ihre Schüler nicht etwa durch sie selbst oder ihre Eltern entscheidend geprägt werden, sondern durch Medien. Das Internet-TV, das Jugendliche wegen der Einförmigkeit der offiziellen Programme bevorzugt wählen, fördert dabei den Trend zur vollkommenen Individualisierung. Jeder Jugendliche verabschiedet sich – oft genug unbemerkt – in eine subjektive Welt, eine aus Mausklicks zusammengestellte Pseudowirklichkeit.
Natürlich hat das Fernsehen und seine Inszenierungen wichtige politische Wirkungen. Jeder technische Apparat – so lehrte es der Technik-Philosoph Günter Anders – ist in seiner Wirkung auf den Benutzer nicht etwa neutral, sondern verändert auch denjenigen, der ihn benutzt. „Das Fernsehen unterhält die Leute, indem es verhindert, dass sie sich miteinander unterhalten“, analysiert der Schriftsteller Sigmund Graff nur eine dieser möglichen Funktionen des Fernsehens.
Um das Fernsehen tiefer zu verstehen, müssen wir es als ein Phänomen der modernen Technik begreifen. Das Fernsehen schult unser Auge, auf eine bestimmte Weise Wirklichkeit zu bergen. Durch das Fernsehen sehen immer mehr Menschen das Selbe. Der deutsche Philosoph Martin Heidegger sah in der globalen Vernetzung der technischen Apparaturen ein „Gestell“, das alles – auch den Menschen – zum bloßen Bestand degradiert. Die Unterhaltungsindustrie basiert derart auf dem Bestand der Fernsehzuschauer, die als gleichförmige Masse auf bestimmte Inhalte ausgerichtet werden.
Damit eröffnet das Fernsehen – mehr als noch das Radio – auch eine Option für bestimmte Arten der Massenherrschaft oder des Konsumverhaltens. Der Zusammenhang von Technik und Politik im Sinne einer kontinuierlichen Machtsteigerung ist dabei evident. Wenn man in Nürnberg das Aufmarschfeld der Nazis besucht, ahnt man, dass diese Form der politischen Ansprache nicht ohne das Mikrofon denkbar gewesen wäre. Das Fernsehen war zu dieser Zeit nur in seiner öffentlichen Form als Kino einsatzfähig. Der Filmregisseur Chabrol kommentierte dieses Phänomen wie folgt: „Ich bin sicher: Wenn es damals schon Fernsehen gegeben hätte, hätte Hitler nicht funktioniert. In der Großaufnahme hätte er komisch gewirkt.“ Heute gibt es längst das digitale Fernsehen und feinste Formen der Kontrolle. Das politische Spektakel und seine Inszenierungen brauchen das Fernsehen – nicht zuletzt wegen seiner mehrheitsbildenden Wirkung.
Unsere Städte werden mit Hilfe hunderttausender Videokameras überwacht. Wir schauen immer mehr und werden immer öfters beobachtet. Die Herrschaft der Fernsehapparate ist gleichzeitig global geworden. In vielen Schwellenländern – von Bosnien, über die Türkei bis nach Ägypten – kann man die neuen Machtverhältnisse auch anhand der Beteiligungsverhältnisse an den Fernsehanstalten studieren. Die Kontrolle über das Fernsehen ist ein modernes Politikum.