Liebe Muslime,
ich möchte Euch alle recht herzlich – auch im Namen der Islamischen Zeitung – hier in Weimar begrüßen. Ich möchte zunächst ein wenig in die Thematik und die Denkwege einführen, die sich aus unserem Aufenthalt hier ergeben könnten. Warum Weimar? Seit vielen Jahren haben wir die Stadt Weimar als eine Brücke zwischen dem Westen und dem Islam entdeckt. Viele Muslime haben diese Stadt auf Einladung unseres Institutes hier besucht. Hierbei ging es nicht nur um akademische Themen. Mitte der 90er Jahre hat das Weimar Institut zwei wichtige Konferenzen unter dem Eindruck der furchtbaren Trägodie in Bosnien organisiert. Wieder waren mitten in Europa Menschen wegen ihrer religiösen Identität verfolgt worden und es schien uns damals eine Pflicht auf die Schizophronie Europas gegenüber diesem Konflikt hinzuweisen. Ich erinnere mich noch an die ebenso beeindruckenden wie unvergesslichen Schilderungen betroffener Muslime aus der Region. Leider hat gerade das intellektuelle Europa auf diesen Konflikt damals nur mit großer Verzögerung reagiert.
Wie jedes Jahr soll unser „Weimarer Spaziergang“ daran erinnern, dass, wenn wir über Europas Identität und Kultur sprechen, das Erbe der europäischen Muslime unbedingt dazugehört. Zu unserem Europa gehören Sarajevo und Granada, der Balkan und al-Andalus, gehört der West-Östliche Divan, Srebrenica und natürlich die faktische Präsenz der Millionen europäischer Muslime. Als europäische Muslime verstehen wir hier alle Muslime die europäische Sprachen sprechen.
Wir stellen darüber hinaus klar, dass wir Muslime in Europa kein Randdasein führen wollen, sondern selbstverständlicher Teil der europäischen Gesellschaften und ihres Erbes sind. Wir bewegen uns als „Muslime in Weimar“, zumindest nach unserem eigenen Verständnis, nicht am Rand, sondern im Zentrum der Gesellschaft. Das soll heißen: Jedes Ressentiment gegen die Geschichte Europas ist uns nicht nur fremd, sondern vielmehr sehen wir als europäische Muslime gerade in unserer europäischen Geschichte, einen wesentlichen Erfahrungshorizont unserer eigenen Existenz in Europa.
Es gibt kaum ein besseren Ort als Weimar sich dem geschichtlichen Erbe Europas zu stellen. Gerade die Beschäftigung mit Schiller und Goethe, aber auch die Beschäftigung mit der neueren Geschichte und den hier zeitweise herrschenden Ideologien ist natürlich für unseren eigenen Gang durch die Geschichte essentiell. Das naheliegende Lager Buchenwald erinnert an das Faktum, dass auch große Literatur und großes Denken nicht vor den Niederungen moderner Ideologien schützen konnten. Die nationalsozialistische Herrschaft wirft nach wie vor einen Schatten auf diese Stadt.
Nehmen wir die negativen geschichtlichen und politischen Erfahrungen Europas also ernst, dann muss es uns darum gehen, unseren gelebten Islam hier und jetzt abzugrenzen von Ideologie, Nationalismus und Rassismus. Der Islam – so ist es unsere Überzeugung – verträgt sich mit überhaupt keinem „Ismus“.
In der heutigen Debatte über den „Islamismus“ wird zurecht immer wieder festgestellt, dass der sogenannte radikale Islamismus, ein Kind der Moderne sei. Im Extremfall wird dabei, zumindest dem radikalen Islamismus, so zum Beispiel vom Herausgeber der Zeit, ein innewohnender Faschismus unterstellt. Dieser radikale Kern „ideologisch fanatisierter“ Muslime, bis hin zu selbstmörderischen Terroristen dürfte sich allerdings im Vergleich zur absoluten Zahl der Muslime nach wie vor eher in Promillegrößen bewegen.
Wir Muslime stehen der Debatte und dem Begriff „Islamismus“ mit einer gewissen Skepsis gegenüber, nicht weil wir die relevante Fragestellung nicht erkennen würden, sondern vor allem weil der Begriff augenscheinlich auch dazu führt Massenmörder und einfache Muslime als „Islamisten“ in ein und derselben Ordnungsstufe zu führen. Die heikle Abgrenzung von „Muslimen“ und „Islamisten“, von Guten und Bösen, ist heute natürlich auch eine Machtfrage. Wer entscheidet und befindet über diese politische Begriffe? Wenig anregend ist auch die banale, vorschnelle Dialektik den Islam als „gute“ Esoterik und den Islam als „bösen“ Fundamentalismus aufteilen zu wollen.
Das sollte uns Muslime allerdings auch nicht hindern, über das problematische Verhältnis der Moderne zum Islam tatsächlich selbst nachzudenken. Was bedeutet es wenn ein moderner Staat, eine Bewegung oder eine Partei sich als „islamisch“ definiert? Was bedeutet es für die Lehre des Islam, wenn sich Muslime fanatisieren oder ideologisieren? Was bedeute es, wenn das islamische Recht dem politischen Willen oder einer totalen Kriegsführung geopfert werden?
Wenn es um die inhaltliche Deutung des Begriffes Islamismus geht, definiert der Begriff letzlich eine Mischgeburt aus Islam, den politischen Lehren der westlichen Ideologie und den Verführungen moderner Organisationstechnik. Die Entstehungsgeschichte dieser Ideologie ist nicht zu trennen von den demütigenden Kolonialerfahrungen der arabischen Völker. Der moderne Islamismus ist von einer inneren, die Moderne überhaupt kennzeichnenden Tendenz zur geistigen Totalität, bis hin zu der wahrhaft modernen Idee totaler Raumbeherrschung geprägt. Politisch definiert sich der Islamismus gerne gegen einen Feind und zieht seine Identität aus dem Gegenbild des ganz Anderen. Es bedarf also tatsächlich auch zwischen Muslimen einer vertiefte Diskussion um das Verhältnis von Islam, Moderne und Technik. Existentiell gesprochen ist die offenbarte Welt des Korans nicht unbedingt deckungsgleich mit dem abstrakten vorgestellten Weltbeherrschungsraum moderner muslimischer Ideologen.
Wie sich also verhalten zum politischen Islam? Nicht zu vergessen ist dabei, dass die aktuelle Forderung nach einem „demokratischen“ Islam ebenfalls eine politische Forderung ist. Demokratischer Islam ist eine Spielart des politischen Islam. Ich denke die vollständige Politisierung des Islam ist dabei für Muslime denkunmöglich, da die rechtlichen, sozialen, ökonomischen Komponenten zur inneren Balance des Islam dazugehören. Jeder rein politische verfasste Islam läuft Gefahr das Recht des Islam zu missachten.
Gerade die Islamische Zeitung hat immer wieder versucht, die Unvereinbarkeit von Islam und moderner Ideologie auszudeuten. Zu den tiefen Fragen gehört das Verhältnis des Islam zur Technik, dass viele Muslime noch kaum als Frage am Horizont erkennen. Der Islam ist eine natürliche Lebenspraxis und dies ganz im Sinne des Goethe-Wortes, dass die „Natur kein System“ sei. Jede Ideologie bildet Systeme, der Islam ist aber kein System. Die islamische Erkenntnis, dass alle Macht Allah zugesprochen wird, ist eine entscheidende Grenze menschlicher Macht- oder Ohnmachtsphantasien. Hierher gehört natürlich auch die Frage nach Rückbindung der heutigen Muslime zu den Quellen. Zum islamischen Wissen und Denken gehört die Anerkennung islamischer Denkregeln, die Wahrnehmung von Madinah, die Logik der Rechtsschulen. Die Frage lautet: Woher nehmen wir heute eigentlich unseren Islam? Auf welche Denk- und Rechtsschulen, auf welche Bücher und Traditionen beziehen wir uns? Wahr bleibt, zum islamischen Glaubensbekenntnis gehört die Offenbarung und die Liebe zum Propheten, gehört Mekka und Madinah. Die Liebe zum Propheten und die genaue Kenntnis seiner Lebensgestalt sind für Muslime außerordentlich wichtige Orientierungspunkte. Seine Handlungsmaximen und seine Menschlichkeit, seine Ausnahmen, seine charakterlichen Aspekte gehören zur Balance des islamischen In-der-Welt-seins.
Die Debatte über den Islamismus ist allerdings keine Einbahnstraße. Die aktuelle Debatte über die Leitkultur wird heute vor allem politisch, von Politikern geführt. Wir erleben heute die Politisierung des Kulturbegriffes. Ich bin daher der Überzeugung, dass wir die Debatte über den „Islamismus“ zusammen denken müssen mit einer Debatte über die demokratische Kultur überhaupt.
Heute stehen in den Logbüchern der Kultur, aber auch aus der westlichen Denkwelt heraus, neuerdings ungewöhnliche Beiträge. Vielen westlichen Denkern ist klar, dass auch die moderne Demokratie sich in ihrem Wesen fortlaufend verändert. Der Pessimismus hat hier bekanntlich verschiedene Ausformungen, betrifft im Kern aber vor allem das ungeklärte Verhältnis der Demokratie zum Kapitalismus. Es gehört schon erstaunliche Naivität dazu, diese „Systemfragen“ die sich aus der globalen Anhäufung von Kapital ergeben, nicht näher zu hinterfragen. Was geschieht beispielsweise, wenn Medienkonzerne, gespeist aus chinesischem und amerikanischem Kapital den Medienweltmarkt beherrschen? Die Diskussion über und gegen den Islamismus darf nicht über die Krise der modernen Demokratie hinwegtäuschen. Islamismus und Kapitalismus gefährden die moderne Demokratie gleichermaßen.
Das System, die neue demokratische Kultur im Weltmaßstab, so führt Jean Christophe Rufin beispielsweise in seinem Buch „Die Diktatur des Liberalismus“ aus, ist im Prinzip durch eine kalte, doppelte Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschen und seinen Grundfragen ausgezeichnet:
„In gewissem Sinne ist die demokratische Kultur auf eine doppelte Gleichgültigkeit gegründet. Die erste Gleichgültigkeit ist die des liberalen Systems gegenüber den Menschen, die ihm angehören. Das System wird, vor allem in seinem wirtschaftlichen Zuschnitt, immer inter- und übernationaler und ist deshalb immer schwerer zu kontrollieren. Dagegen können die Menschen ihre politische Wahl nur noch auf nationaler und lokaler Ebene zum Ausdruck bringen, das heißt, ohne die wirklichen Kraftquellen des Systems zu erreichen. Diese Spaltung zwischen dem nationalen Bereich – der wohl oder übel der Raum bleibt, in dem die demokratische Kontrolle stattfindet – und dem übernationalen Bereich, indem die wirklich wichtigen Entscheidungen getroffen werden, ist eine der Ursachen für die Autonomie der liberalen Kultur.“
Natürlich hat Rufin Recht, wenn er die eigentliche Problematik der modernen, nationalen Demokratien in der unzureichenden demokratischen Kontrolle globaler Kräfte des Marktes sieht:
„So erlaubt sie z.B. dem Wirtschaftssystem, sich der demokratischen Kontrolle zu entziehen. Außerdem lässt sich der politische Protest in Schranken halten, indem man ihn auf einen nationalen Rahmen eingrenzt.“
In seinem aktuellen Werk „Globalia“ bekräftigt Rufin seine nachdenkenswerte These, dass das westliche Denken nicht unerheblich auf der Dialektik gegen einen Feind beruht. Die These, dass das Feindbild „Kommunismus“ nicht ganz zufällig durch das Feindbild „Islamismus“ ersetzt worden ist, ist ja nicht ganz neu. Die Beurteilung evidenter Wesensveränderungen moderner Staaten in ihrem Abwehrkampf gegen innere und äußere Feinde schaffen zahlreiche Kontroversen. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben kritisiert, dass im Kampf gegen den Terrorismus der Ausnahmezustand bereits zunehmend die Regel wird:
„Die Erklärung des Ausnahmezustands wird ersetzt durch eine beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normale Technik des Regierens – mit beinahe täglich verfeinerten Sondervollmachten.“
Tatsächlich sind die modernen Lager als „Ausnahmeorte“ schockierend und wie Agamaben dies scharf zuspitzt „integrierter“ Bestandteil des modernen Nomos. Seit Guantanamo wissen wir Muslime, dass also auch eine demokratisch verfasste Realität durchaus – sozusagen über Nacht – beinahe faschistoide Züge tragen kann. Natürlich kann man sagen, dass das Schicksal einiger Hundert Häftlinge im Weltmaßstab zu vernachlässigen sei oder man kann sich mit dem zynischen Gedanken trösten, es handle sich ja nur um „kleine“ Lager. Bedeutsam ist aber in diesem Zusammenhang das Lager vor allem als Phänomen.
Es ist legitim darüber nachzudenken, ob das Lager, wie das Agamben formuliert, in der neuen Weltordnung ein bereits integrierter Bestandteil darstellt. Wie kann man Lager überhaupt legitimieren? Es sei in diesem Zusammenhang an folgendes historisches Gespräch, kurz nach dem 2. Weltkriege, zwischen dem Ankläger Jackson und der Nazi-Größe Göring (Nürnberger Prozess, 18.3.1946) in Nürnberg erinnert:
„Ankläger Jackson: Schutzhaft bedeutete, dass Sie auch Leute in Gewahrsam nahmen, die noch kein Verbechen begangen hatten, von welchen sie jedoch annahmen, dass sie möglicherweise ein Verbrechen begehen konnten?
Göring: Jawohl. Es sind Leute verhaftet worden, die noch kein Verbrechen begangen haben, von denen man es aber erwarten konnte, wenn sie in Freiheit blieben. Der ursprüngliche Zweck, weshalb zunächst die Lager kamen, war die Aufnahme der vorhandenen Staatsfeinde, die wir als solche betrachteten, mit Recht betrachteten.“
Natürlich ist Amerika noch immer und in großen Zügen ein Rechtsstaat. Es bleibt aber auch heute eine wichtige politische Grundfrage, ob der Zweck die Mittel heiligt. Die Diskussion hierüber hat längst begonnen. So reflektierte beispielsweise der Spiegel unter dem Titel „Terminator? Nein, Demokrator!“ den Missionsdrang des amerikanischen Präsidenten. Autor Claus Christian Malzahn erzählt vom modernen Mythos der Demokratie, der aus den Wüsten des Iraks aufsteigt, auf Spiegel Online. Malzahn wünscht sich im Grunde die Bundeswehr wieder etwas forscher, da es jetzt ja endlich das absolut Gute zu befördern gilt. Was sind da schon ein paar Tote durch etwas unpräzise, aber eben doch demokratische Luftkriege ? Nach Mahlzahn rechtfertigt der Krieg seine Opfer:
„Irak, die Palästinensergebiete, Libanon: Das Virus der Demokratie grassiert im Mittleren Osten. Die deutsche Außenpolitik muss auf diese erfreuliche Wende endlich reagieren und der Tatsache ins Auge blicken, dass Freiheit und Demokratie manchmal eben doch mit Feuer und Schwert gebracht worden sind.“
Malzahn argumentiert, dass nur so aus der Geschichte zu lernen sei. Fazit: „Jetzt haben wir sie also endlich wieder, die richtig guten Kriege“. Malzahn weiter:
„Hitler ist nicht durch Pazifisten aus der Welt geschaffen worden. Auch die Nazi-Herrschaft wurde nicht durch Sitzblockaden vor dem Führerhauptquartier beendet….Hitlers totale Kriegsmaschine wurde unter größten militärischen und zivilen Opfern von Russen, Amerikanern und Briten niedergerungen. Uns Deutschen wurde die Demokratie mit Bomben und Granaten ins Land getragen. Anders ging es nicht, weil die Deutschen es nicht anders wollten. Viele glaubten bis zum Schluss an ihren Führer, und die ersten Schritte der Re-Education wurden damals nicht von Sozialarbeitern angeregt, sondern von der US-Army befohlen Nun scheint aus diesem falschen Krieg echte Meinungsfreiheit und Demokratie zu entstehen. Dann gäbe es genauso gute Gründe zu jubeln.“
Wo so brachial argumentiert wird, bleibt für Zwischenrufe nur wenig Raum. Die eine oder andere Systemfrage stellt sich aber schon: Sind also tausende zivile Opfer legitim, wenn es um die Etablierung echter Demokratie geht? Wie steht es um das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Ging es also nicht um Öl? Wer finanziert und kontrolliert die modernen Massenmedien im Irak?
Kommen wir nun aber zurück zur eigentlichen Leitkulturdebatte, zu der wir heute mit unserem Gang durch Weimar einen kleinen Beitrag leisten wollen. Es ist heute nicht zu übersehen, dass – insbesondere – konservative Politiker versuchen einen Kulturbegriff „gegen den Islam“ zu stiften. Das ist nicht unbedingt ein kreativer Vorgang und erklärt noch nicht was heute Kultur „positiv“ ist.
Regisseurin Andrea Breth hat zu Beginn des Schiller-Jahres heftige Kritik am deutschen Theater und seinem Umgang mit den Klassikern geübt. „Wir können heute nicht mehr sagen, wir sind das Land der Dichter und Denker“, kritisierte die am Wiener Burgtheater tätige Regisseurin in der Wochenzeitung Die Zeit. „So wie derzeit bei den Theatern eingespart wird, bedeutet das, dass viele große literarische Werke auf der Bühne gar nicht mehr machbar sein werden“, sagte Breth. „Entweder werden die Theater selbst verschwinden, oder es wird die Ensembles nicht mehr geben, die nötig sind, um solche Werke zu spielen.“ Das heutige Theater sei ein „Supernaschmarkt ohne irgendeine Zielsetzung.“ Breth, die 2006 am Burgtheater Schillers Wallenstein inszenieren wird, zweifelt auch an der Fähigkeit des Publikums, sich mit Schiller überhaupt noch auseinander zu setzen. „Angesichts der zunehmenden Trivialisierung der Gesellschaft fragt man sich ohnehin, ob man Schiller noch machen kann, ob den noch jemand wirklich versteht. Wenn man nicht mehr weiß, wofür man existiert, wenn man abstreitet, dass wir etwas zu vererben haben, wird es eng.“
Davon abgesehen was „Kultur“ heute überhaupt ist, sicher wird dieser Begriff nicht positiv mit uns Muslimen in Vebindung gebracht. Die Emotionen in unserem Kulturkreis, wenn es um Islam geht, sind natürlich äußerst bedenklich. Machen wir uns nichts vor: Den Islam empfinden die Deutschen als fremd und bedrohlich. Dies zeigt das Ergebnis einer Frage nach den Assoziationen, die das Wort „Islam“ bei den Befragten hervorruft. Ganz an der Spitze der Aussagen stehen „Unterdrückung der Frau“ (93 Prozent), „Terror“ (83 Prozent), „fanatisch, radikal“ (82 Prozent), „rückwärtsgewandt“ (66 Prozent). Die ersten positiven Assoziationen erscheinen, von weniger als der Hälfte der Bevölkerung genannt, an sechster und siebter Stelle: „Gastfreundschaft“ (45 Prozent), „bedeutende kulturelle Leistungen“ (39 Prozent).
Von der Faszination, die der Orient jahrhundertelang auf den Westen ausübte und die sich in Kunst, Literatur und Architektur des Abendlandes niederschlug, von den gotischen Kathedralen bis zur Dresdener Tabakmoschee, ist wenig geblieben. Ganze 16 Prozent der Deutschen sagen heute noch, man könne beim Stichwort „Islam“ an „faszinierend“ denken. Ganz am Schluss der Liste, von 6 Prozent angeführt, erscheint schließlich die Assoziation „sympathisch“.
Zweifellos erscheint der Islam in der Öffentlichkeit heute entweder als „kulturlos“ (Hinterhofmoscheen) oder aber als ein völlig anderer kultureller Raum (Parallelgesellschaft). Dieser Umstand kann uns nicht gleichgültig lassen.
Es gehört zu einer der wiederkehrenden Grundthesen der Islamischen Zeitung, dass der Islam keine Kultur ist, aber Kulturen hervorbringt, begünstigt, fördert. Der Islam als Lebenskunst konnte bisher kaum einer breiteren Öffentlichkeit nahegebracht werden. Woran liegt das? Einfache Antworten gibt es hier nicht. Versuchen wir es einmal mit einigen Fragen: Liegt es vielleicht daran, dass unsere Organisationen sich mehr um Machtfragen als um das islamische Leben in Deutschland kümmern? Dass wir verlernt haben, Feste mit unseren Frauen und Familien gemeinsam zu feiern? Das wir keine Architektur haben, die unsere Lebenspraxis befördern? Dass es uns Märkten, Stiftungen überhaupt an kreativen Ideen ermangelt? Dass wir kaum „islamische Inhalte“ austauschen und noch seltener gemeinsam um den besten Weg streiten?
Kommen wir zurück zu unserem Aufenthalt in dieser Stadt und dem Denken der großen Klassiker. Es sind die alten Fragen, die von Goethe und Schiller gestellt worden sind. Sie wirken noch heute in fast allen Debatten nach. Nur eines von vielen Beispielen. Dass religiöse Gefühle und kriegerische Eintreten Europa nicht fremd war, zeigt Schillers lesenswerte Abhandlung „Geschichte des dreißigjährigen Krieges“:
„Was die entschiedensten Gefahr des Staates nicht über seine Bürger vermocht hätte, bewirkt die religiöse Begeisterung. Für den Staat, für das Interesse des Fürsten würden sich wenig freiwillige Arme bewaffnet haben, für die Religion griff der Kaufmann, der Landbauer freudig zum Gewehr.“
Kommt diese Sehnsucht Europas nach „Verweltlichung“ aus diesen mörderischen Zeiten? Kommt hieraus die tiefe Furcht, das Misstrauen vor religiöser Begeisterung? Und wurde im Prozess der Verweltlichung nicht neue Götter gestiftet? Ist der Staat, und vor allem der moderne Staat, nicht längst eine Art „sterblicher Gott“?
Was ist Islam? Diese Frage wird oft vorschnell beantwortet, vor allem dann, wenn das Handeln von Muslimen einfach mit dem Islam gleichgesetzt wird. Einige wichtige Orientierungspunkte für die Annäherung an den Islam finden sich bei Goethe, so in den Gesprächen mit Eckermann in den letzten Jahren seines Lebens. Scharfsichtig erkennt Goethe den Kern der islamischen Glaubenslehre, das Akzeptieren des Schicksals und die Einheitslehre. Die offene Begegnung mit den Muslimen ist damit für Goethe eine geistig gewinnbringende Tugend:
„…[Es] ist höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weiteren.“
Hier definiert Goethe eine allgemeingültige Glaubensmaxime: die Bejahung des Schicksals, die alle Gläubigen jenseits der Konfessionen teilen, und fährt fort:
„.. im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne daß es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! …[Es ist] eine Lehre … [der] Vorsehung, die das Kleinste im Auge hält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.“
Sodann leitet Goethe auf das islamische Denken über und bewundert die Souveränität der Muslime, sich auch gelassen auf jedes Gegenargument einzulassen:
„Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß. Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet. Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann.“
Goethe schließt sodann:
„Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren auf welcher geistigen Stufe man denn eigentlich stehe.“ (11. April 1827)
Nach Goethe ist also die Frage nach dem Islam, nichts anderes als die eigene Frage als Gestalt. Goethe war sich sicher, dass diese Glaubensfragen dauerhaft relevante Fragen bleiben. So liest man im West-östlichen Divan:
„Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens.“
Die Frage nach dem Existenzrecht der Muslime und des Islam in Europa wird allerdings eine der Kernfragen der europäischen Demokratien sein. Es ist für das moderne Europa ein gutes Zeichen, wenn sich alternative Lebenspraktiken auch hier noch leben lassen. Alles andere wäre ein Zeichen wachsender Totalität und Uniformität.