Seit den Anschlägen von Madrid am 11. März vergeht kein Tag ohne die Forderung an die Muslime in Deutschland, sich vom islamistischen Terrorismus zu distanzieren. Natürlich ist diese Forderung berechtigt, obwohl es nicht an verbalen Stellungnahmen fehlt. Fragt man den organisierten Islam in Deutschland allerdings, warum die Muslime eigentlich nicht gegen den Terrorismus auf die Straße gehen und ein unmissverständliches Zeichen setzen, bekommt man zumeist ausweichende Antworten. „Es würden nur wenige kommen“ , „man habe wenig Zeit“ „man wolle kein Schuldeingeständnis“ , oder „man fürchte agent provocateurs“ heißt es, oder aber man erntet nur schlichtes Erstaunen, als habe man vorgeschlagen, man wolle eine islamische Disco veranstalten. Viele Muslime sind von dieser Passivität des „offiziellen Islam“ zu Recht enttäuscht. Das Argument ist so klar wie dringend: Wir brauchen klare Zeichen und Signale, bevor es zu spät ist.
Viele „liberale“ Muslime in Deutschland wollen sich nicht länger von – so die Kritik – selbst ernannten Sprechern repräsentiert sehen. Sie sehen sich neuerdings als Gegenbewegung zu den etablierten Strukturen des Islam, definieren den Islam allerdings selbst auch mit einer politischen Kategorie, dem Liberalismus. Das mag auch seine politischen Absichten haben und letztlich zu einer wenig hilfreichen Dialektik zwischen guten und bösen Muslime führen. Aber lassen wir für einen Moment beiseite, was es heißen soll liberal zu beten, den Zakat zu bezahlen oder auf die Pilgerreise zu gehen – denn in der Debatte um den Terrorismus sind es schlicht die Argumente der „liberalen“ Muslime die uns tatsächlich nachdenklich stimmen sollten. Hier einmal – exemplarisch und unkommentiert – drei Beispiele solcher Wortmeldungen:
„Wenn im Namen einer Religion schwerste Verbrechen ausgeübt werden“, sagt beispielsweise Safter Cinar, Vorstand des Türkischen Bundes für religiöse Angelegenheiten, „gibt es durchaus die Pflicht, sich hiervon glaubhaft abzugrenzen. Die schweigende Mehrheit der Muslime in unserem Lande, die unsere Grundwerte schätzt und respektiert, muss sich bemerkbar machen.“
Seyran Ates, Berliner Anwältin und Autorin sagt, es sei „überfällig, der Weltöffentlichkeit ein anderes Gesicht des Islams zu zeigen. Nach Mölln, Solingen, Hoyerswerda und Rostock waren Hunderttausende Deutsche auf der Straße, um sich zu distanzieren. Nach New York, Istanbul und Madrid gab es keine Demonstrationen von friedlichen Muslimen gegen diese Gräueltaten … Wer für das Kopftuch auf die Straße geht, sollte auch für den Frieden demonstrieren können.“
Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu sagt: „Die moderaten Muslime, die ihren Weg in den Gesellschaften des Westens machen, wissen nicht erst seit Madrid, dass ihre Lebensweise den Terroristen ein Dorn im Auge ist. Niemand wird für ihre Sache das Wort ergreifen, wenn sie es nicht selber tun. Dass es weitere Gelegenheiten geben wird, zum politischen Islam Stellung zu nehmen, steht leider zu befürchten.“
Man muß natürlich daran erinnern , dass für den „Islam“ der Terroristen, eigentlich jeder Muslim, der nicht ihrer eigenen sektiererischen Bewegung angehört, ein Feind ist. Dies zeigt ja auch die Zahl der muslimischen Opfer und die absolute Isolation solcher Gruppen. Für den Terrorismus der „Auserwählten“ ist relativ unbedeutend ob man ein Konvertierter, ein Liberaler, ein Erdogan-Anhänger, ein Unpolitischer, ein strenggläubiger Sufi , ein spanischer Arbeiter oder eben ein israelischer Kinderschüler ist. Die Totalität dieses gnadenlosen Denkens ist mir nicht völlig unbekannt. Wer einmal in Bosnien, in Albanien oder in Kazakhstan war, wird zustimmen, dass dort in den letzten Jahren vor allem der wahhabitische Islam, der als einer der wesentlichen Quellen der Terroristen gilt, mit großer Arroganz gegenüber jahrhundertelangen islamischen Traditionen aufgetreten ist. Die Lehre der zumeist jugendlichen Absolventen der Madinah-Universität ist recht simpel, hypermoralisch und wird mit viel Geld im islamischen Ausland propagiert: „den wahren Islam, den guten Islam haben nur wir“.
Präsident Itzetbegovic hat mir selbst, kurz vor seinem Tod angedeutet, dass man in großer Not saudische Krankenhäuser dankend angenommen habe, der Islam selbst sei aber durch den mitimportierten Wahhabismus leider zum Schrecken der jungen Leute geworden. Das gleiche gilt in Marokko, wo der Wahhabismus mit großer Aggressivität und Ignoranz den sufisch geprägten Islam „der Armen, die nichts haben außer Allah“ bekämpft. In allen Fällen und überall wird – nebenbei erwähnt – von den Madinah-Jüngern ein europäischer Muslim als ein „Paradox und ein Widerspruch an sich“ angesehen. Wie auch immer, hier ist sicher noch einiges aufzuarbeiten, wenn auch in Saudi-Arabien sich bereits das Verhältnis zum radikalen Flügel der eigenen Staatsreligion natürlich rasch und fundamental gewandelt hat.
Interessant ist, dass der deutsche Verfassungsschutz immer wieder warnt, die Deutschen hätten den Terrorismus in den letzten Jahren nicht ernst genommen. Das ist eine Vereinfachung und gilt schon gar nicht für alle hier lebenden Muslime. Die Gefahr des Terrorismus wurde durchaus auch von Muslimen gesehen, dokumentiert und auch öffentlich angeprangert. Zugängliche Quellen, Beiträge und Analysen gab es genug. Man ist in der Behörde über Jahre davon ausgegangen, dass der organisierte Islam der öffentlich und wahrnehmbar mobilisieren kann, die gefährlichste Bedrohung sei. Die Namen und Institutionen des wahhabitischen Islam und ihre Zellen sind in keinem der Verfassungsberichte zu sehen, das Wort Saudi-Arabien taucht generell nicht auf und die neuesten Erkenntnisse über die saudische Schule in Bonn sprechen ebenfalls Bände. Es ist nach wie vor so interessant wie vielsagend, dass man kritische Äußerungen deutscher Politiker über die USA, über Russland und Kuba findet – nicht aber über Saudi-Arabien. Natürlich ist auch intensive Verflechtung – beispielsweise – der bayrischen Wirtschaft mit Saudi-Arabien einem – wie manche Polemik sagt ein antisemitisches und islamistisches Regime – bis heute überhaupt kein Sicherheitsproblem. Der systematische und überkonfessionelle Zusammenhang zwischen Geld und Terrorismus, die Liebe der hasserfüllten Kämpfer zum Dollar, verdient sowieso mehr öffentliche Beachtung.
Aber zurück zum eigentlichen Thema und unserer eigenen Verantwortung. Was lähmt die „organisierten“ Muslime heute klare Zeichen zu setzen? Man kommt nicht daran vorbei, es ist keine Krise der Muslime generell, es handelt sich vielmehr um eine tiefe Krise der islamischen Lehre. Wo sind die Wortbeiträge und Texte, die Fatwas und Lehrstunden der europäischen Gelehrten des Islam, wo weist man uns den richtigen Weg?
Erlauben wir uns es einmal direkt anzusprechen: Über Jahrzehnte hat sich die Lehre des Islam der Politik und Funktionären untergeordnet, bezahlen und verbeamten lassen und so ihre eigene, unbestechliche Substanz verloren. Das geistige Gesetz ist einfach: Jeder politische denkende Islam will die Lehre vereinnahmen. So entstehen Nationalismen, Frauenfeindlichkeit, Zweckentfremdungen. All diese Zeichen wiegen schwer auf denen, die Wissen haben. Der Islam überlebt korrupte Politiker – nicht jedoch korrupte Ulama. Über Jahrhunderte war der Islam vom unabhängigen Wettstreit , vom Genie und der Brillanz der Wissenden und Gelehrten geprägt. Wo findet dieser Streit zwischen den Muslimen- sei es auch hinter verschlossenen Türen – heute noch statt? Es wird Zeit, dass die islamische Lehre abseits der politischen Bevormundung wieder zu ihrem Sauerstoff findet. Es ist jedenfalls kein Wunder, dass es vielen Muslimen heute an Inspiration und Orientierung fehlt.
Es ist immer wieder interessant, einen Muslim schlicht zu fragen, wo er seinen Islam gelernt hat, woher seine Lehrer kommen, welche Bücher für ihn relevant sind und welche Denkregeln des Islam er eigentlich akzeptiert. Wie interpretiert man den Koran, welche (der oft Dutzenden) relevanten Stellen zum Thema kennt man, welche Koranverse sind wo und in welcher Situation offenbart oder später gar durch bestimmte Verse abgelöst worden. Nur unter dieser Fragestellung und in diesem Licht zeigt sich überhaupt islamisches Wissen. Der Standard kann hier nicht hoch genug sein. Besonders spannend ist diese Frage nach der Quelle eigenen islamischen Wissens an Muslime aus Bosnien, aus Albanien oder der Türkei, ja auch aus Ägypten oder Marokko – denn gerade dort wurde ja jede traditionelle, naturgemäß gemäßigte Wissensvermittlung (zur Freude des Westens) unterbrochen. Heute sehen wir vor allem Muslime mit ideologisch-modernistischer Prägung kämpfen und morden. Die Decodierung der Mischformen zwischen westlichen Ideologien und Islam kann nur durch eine Offensive des Wissens und der Lehre erfolgen.
Unsere Gelehrten müssen zeigen, warum Selbstmordattentate haram sind, was wir über das Paradies wissen, wer es versprechen kann und was über den Tod offenbart ist. Wir müssen lernen, dass moralisch verständlich und islamisch erlaubt zwei absolut verschiedene Dinge sind. Wir sollten endlich verstehen, dass die Hamas kein moralisch zu rechtfertigender Betriebsunfall, der uns nichts angeht darstellt und die Mär beenden unser Islam oder unser Glück hänge von der Lösung eines, wenn auch schmerzlichen Regionalkonfliktes ab.
Niemand in Europa kann erwarten, dass wir Muslime unseren Glauben leugnen. Europa kann aber erwarten, dass wir uns aktiv und inhaltlich vom Terrorismus abgrenzen. Im Ausnahmefall muß man da auch mal auf die Straße gehen. Dann kann man auch wieder über das Ganze und Heile des Islam sprechen, den Islam, den wir lieben.