In den letzten Jahrzehnten hat das technologische Projekt weiter rasant an Fahrt aufgenommen. Fern von einer moralischen Bewertung erleben wir in der gebotenen Gelassenheit, dass sich in vielen Lebensbereichen die Verhältnisse global angleichen. Die sozialen Medien führen dazu, dass immer mehr Menschen aus ähnlichen Fenstern hinaus in die Welt schauen. Im politischen Feld führt die Anwendung modernster Organisationstechnik zur zunehmenden Neutralisierung des politischen Inhaltes.
Das lästige Phänomen korrupter Parteien erscheint dabei naturgemäß in unterschiedlichsten Kulturräumen, sei es in Brasilien, Südafrika oder in der Türkei. Spiel und Regel sind –unabhängig von den Akteuren und ihrer geistigen Provenienz – gleichartig. In dem Maß, in dem das politische Geschehen planbar und alternativlos zu sein scheint, wird auch das ausführende Personal austauschbar. Unberechenbarkeit wird eine seltene Größe. Die ursprüngliche Grundidee einer echten „demokratischen“ Wahl“ – das Losverfahren, unter denen zum politischen Amt geeigneten – wirkt heute nicht zufällig, nur noch wie ein so merkwürdiges wie irrationales Relikt aus der Antike.
Als Muslime hierzulande, die zu keiner Zeit Zweifel an ihrer „europäischen“ Identität aufkommen lassen wollten, birgt das Zusammenspiel von letzter Offenbarung und letzter Technik ungeahnte Aussichten. Es ist an uns, die nach wie vor faszinierenden Debatten Europas aufzunehmen und darüber nachzudenken, inwieweit diese Gedankenstränge aus unserer Lebenspraxis heraus neuen Sinn machen. Zu denken wäre hier an die Felder Geschichte und Politik, Philosophie und Literatur und nicht zuletzt die allzeit brennende Frage ökonomischer Gerechtigkeit.
Im Rahmen der EMU und natürlich auch der „Islamischen Zeitung“ gilt es, die europäische Intelligenz in ein Gespräch über die künftige, hoffentlich belebende Rolle der in Europa lebende Muslime einzubinden. Dies passt in das persönliche Bild, die eigene Entscheidung zum Islam als Quintessenz der Beschäftigung mit der europäischen Geistesgeschichte zu begreifen. In den ersten Jahren war es ja insbesondere die faszinierende Konstellation der Weimarer Klassik, die im Zwiegespräch von Goethe und Schiller einen ihren Höhepunkt hatte, die uns diesbezüglich inspiriert hat.
Im letzten Januar sprach Dr Manfred Osten – unserer Einladung folgende – in einem bemerkenswerten Vortrag über diese zeitlosen Verknüpfungen. Goethes Einsicht in das Wesen der Technik, seine Sorge um die sich schon zu seiner Zeit andeutenden Allmacht der Finanztechnik, sein Begriff ganzheitlicher Bildung und natürlich seine ernste Suche nach der Einheit selbst, gehören zum Kernbereich dessen, was uns als europäische Muslime bis heute interessieren muss.
Auch im Jahr 2014 wollen wir versuchen, weitere Linien, die aus der Vergangenheit in die Zukunft deuten, aus dem Blickwinkel europäischer Muslime heraus nachzuzeichnen. Interessant wäre beispielsweise die Debatte, die das Buch „Die Schlafwandler“ des Australiers Christopher Clark mit seinem Geniestreich über die historische Ausgangslage kurz vor dem 1. Weltkrieg auslöst, aus vielen Perspektiven – also auch in Städten wie Skopje oder Sarajevo – fortzuführen. Natürlich muss die Beschäftigung mit Krieg und Ideologie nicht zuletzt zu einer vehementen Verteidigung der islamischen Lebenspraxis vor der feindlichen Übernahme durch die ideologischen Varianten des Salafismus und Wahhabismus führen.
Im Moment gilt es also, immer neue Themenfelder zu sichten und im Gespräch mit europäischen Gelehrten und im Rahmen einer fröhlichen Wissenschaft, eine andere, inspirierende Art der Auseinandersetzung mit dem Islam zu suchen. Wie kann – um nur ein weiteres Beispiel zu geben – die Deutung der „condition humaine“ als eine durch psychologische Faktoren vorbestimmte Realität, die mit Namen wie Siegmund Freud, C.G. Jung und Medard Boss verbunden sind, mit dem islamischen Verständnis des Daseins verknüpft werden? Gehört doch zu den faszinierenden Seiten islamischer Lebenspraxis, die Erfahrung der fortlaufenden „Wandelbarkeit“ des eigenen Daseins, aber auch des Kontextes, in dem wir uns befinden.
Nicht zuletzt beschäftigt uns natürlich die Krise unserer Zeit, die sich durch eine maßlose Verschuldungspolitik äußert und unsere Fundamente in Frage stellt. Hier sitzen alle Europäer im gleichen Boot. Wer Alternativen sucht, wird dabei bedenken müssen, wie sich die „Österreichische Schule“, mit ihrer Forderung nach Wahlfreiheit der Zahlungsmittel und das islamische Wirtschaftsmodell zueinander verhalten. Hier – aber nicht nur hier – könnte die Begegnung zwischen Europa und dem Islam neue Kräfte und Energie auslösen, Geist erzeugen und Kultur stiften und damit Bedingungen schaffen, die Europa wieder erkennbarer werden lässt.