Tayyib Erdogan verunsichert die Garde der deutschen Politiker wohl schon deswegen, weil seine Beliebtheit in der Türkei und in der muslimischen Welt ungebrochen ist. In Deutschland füllt Erdogan mühelos große Hallen und allgemeine Begeisterung ist ihm auch hier sicher. Ich habe selbst den erstaunlichen Aufstieg Erdogans und seine wohlverdiente Popularität in den letzten Jahren miterlebt und immer wieder bewundert.
Naturgemäß ist die Düsseldorfer Rede des charismatischen und selbstbewussten Politikers Vorlage für Freund und Feind. Tatsächlich bietet seine Rede aber auch Vorlagen für einige Missverständnisse.
Die Aufforderung Erdogans an seine Zuhörer, zuerst Türkisch, dann Deutsch zu lernen, ist eine davon. Es gibt zwar eine ernstzunehmende wissenschaftliche Position, die diese Vorgehensweise tatsächlich für erfolgreicher hält, aber die Tatsache, dass Erdogan damit zugibt, dass es noch immer eine große Zahl türkischer Eltern in Deutschland gibt, die kein Deutsch können und sprechen, ist gleichzeitig ein Armutszeugnis und die Bestätigung für ein faktisches Integrationsproblem.
Natürlich ist die Forderung nach Erlernen und Praktizieren der deutschen Sprache ein legitimes Anliegen der deutschen Gesellschaft. Klar ist auch, dass die Integrationspolitik Deutschlands völlig unabhängig von Ankara verlaufen muss.
Nachdenklich stimmt auch das Faktum, dass die Düsseldorfer Halle praktisch zu 100% in türkischer Hand bleibt. Da helfen auch viele bunte Fähnchen nichts. Deutsche Gäste bleiben eher Fehlanzeige. Wäre zumindest eine Übersetzung der Rede ins Deutsche nicht ein passendes und wichtiges Signal gewesen? Es ist nicht völlig unverständlich, dass das Plädoyer für die doppelte Staatsbürgschaft auch als halbe Loyalität für das neue Heimatland gedeutet werden kann.
Der Umstand, dass „türkische“ Organisationen auch nach Jahrzehnten noch immer nahezu ausschließlich an ihren alten ethnischen Trennlinien festhalten wollen, bleibt in jedem Falle ein bedenklicher und gleichzeitig antiquierter Umstand.
Ironisch ist bei alledem, dass eine authentische islamische Position eine ganz andere Haltung ermöglichen würde. Die Verteidigung der Kultur ist hier so lange periphär, so lange die islamische Lebenspraxis nicht betroffen ist. Über Jahrhunderte haben sich Muslime, mit wenigen Einschränkungen, die sich aus Grundsätzen wie dem Alkoholverbot verstehen lassen, durchaus kulturell assimiliert. Die Trennung anhand ethnischer Einteilungen ist dem Islam grundsätzlich fremd.
Die türkischen Verbände und Organisationen müssen aufpassen, dass der Islam nicht weniger wichtig wird als „Nationalgefühl“ und „Kultur“. Nationalismus und Kultur wird in dem Maß wichtig, wie die islamische Identität schwindet, oder anders gesagt, Nationalismus und Kultur ist die Religion des Säkularen.