Die vorliegende Zusammenfassung eines Vortrages von Hadsch Abdulhaqq Bewley in Granada, Dezember 2004 führt in das Thema von Tasawwuf ein:
Allah, gepriesen Sei Er, sagte in Seinem mächtigen Buch: „Ich habe die Menschen und die Dschinn nur geschaffen, damit sie Mich anbeten.“
Einige der Mufassirun [Qur'ankommentatoren] sagen, dass Anbetung in diesem Kontext zu „wissen“ bedeutet. Viele Muslime glauben, dass sie durch die einfache Vollziehung der Handlungen, die durch die Säulen des Islam – das Gebet, die Zahlung der Zakat, das Fasten im Ramadan und die Hadsch – dargelegt werden, schon den Zweck erfüllen, für den Allah sie erschaffen hat.
Jedoch macht uns der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, in verschiedenen Aussagen klar, dass eine Handlung für sich genommen nicht das ist, was von uns verlangt wird. Die Handlungen des Dins sind – natürlich – unverzichtbar, ohne sie ist nichts möglich. Aber das gibt es etwas anderes, was sie begleiten muss. Es gibt ein Hadith [eine prophetische Überlieferung], von einem Mann, der von den beiden Engeln Nakir und Munkar in seinem Grab befragt wird. Sie fragen ihn ihre drei Fragen: „Wer ist dein Herr? Was ist dein Din? Wer ist dein Gesandter?“ Er findet sich selbst unfähig vor, die Fragen zu beantworten. Die Engel sagen zu ihm: „Wie ist das möglich? Wir sahen dich beten mit den Leuten, die beten, die Zakat zahlen, mit den Leuten, die die Zakat bezahlen, fasten mit den Leuten, die fasten und ebenso auf die Hadsch gehen.“ Seine Antwort an die Engel war: „Ich habe nur das gemacht, was ich bei den anderen gesehen habe.“
Dies bedeutet, dass es durchaus möglich ist, alle Handlungen des Dins zu vollziehen, ohne dass sie einen wirklichen Einfluss haben, ohne dass sie wirklich die Anbetung von Allah, gepriesen sei Er, bedeuten. Allah der Erhabene sagte, dass diese wie die Asche sind, die an einem stürmischen Tag fortgeweht wird.
Schaikh Ibn Ata’illah Al-Iskandari: „Handlungen sind bloß gefüllte Formen. Ihr Lebensatem ist die Anwesenheit des Geheimnisses der Aufrichtigkeit, die in ihnen ist.“ Also ohne die Anwesenheit der Dimension der Aufrichtigkeit [arab. Ikhlas] hat eine Handlung kein Gewicht, keine wirkliche Existenz. Die Art und Weise, wie dieses Element in die Handlungen eintritt, ist durch die Absichten.
Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte in dem bekannten Hadith: „Handlungen sind nur durch Absichten. Jeder bekommt, was er beabsichtigt. Wer die Hidschra [Auswanderung] für Allah und Seinen Gesandten vollzieht, dessen Hidschra ist tatsächlich für Allah und Seinen Gesandten. Aber wer die Hidschra für die Erlangung von etwas in dieser Welt – wie die Heirat einer Frau – vollzieht, für den ist die Hidschra ausschließlich für den Zweck, für den er die Hidschra gemacht hat.“ Die Wichtigkeit dieses Hadithes wird durch die Tatsache belegt, dass viele der großen Muhaddithin [die Gelehrten der Hadithwissenschaft], darunter Imam Al-Bukhari, ihre Sammlungen mit diesem Hadith begonnen haben.
Die Fuqaha [Rechtsgelehrten] sind sich darin einig, dass der Ort, in dem diese Absicht gefasst werden soll, das Herz ist. Es ist nicht ausreichend, sie ausschließlich auf der Zunge zu fassen. Dieses Hadith macht klar, dass das Ergebnis der Handlung der Menschen davon abhängt, was in ihrem Herzen ist, von dem, was sie wirklich wollen und erwarten. Dies ist nicht immer einfach, denn dass Herz enthält regelmäßig sich widersprechende Motive und Sehnsüchte. Man kann nicht einfach sagen, dass man eine Sache um Allahs willen macht, wenn die Wahrheit ist, dass die Absicht zwiespältig und verwirrt ist. Damit eine Handlung wirklich für Allah und Seinen Gesandten sein kann, muss das Herz des Menschen gereinigt werden von widerstrebenden Gefühlen und Sehnsüchten für dieses und jenes, was uns die meiste Zeit beschäftigt.
In anderen Worten, eine reine Absicht verlangt eine gereinigtes Herz und damit eine Handlung anerkannt wird, muss sie von einer reinen Absicht begleitet werden. Also ist ein gereinigtes Herz notwendig, damit unsere Anbetung Allahs effektiv ist, damit wir erreichen, wozu uns unser Herr erschaffen hat.
In dem grundlegenden Hadith, in dem der Engel Dschibril [Gabriel], Friede sei mit ihm, kommt und neben dem Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sitzt, mit dem Ziel, den Gefährten und allen folgenden Generationen der Muslime das Wesen ihres Dins klar zu machen. Demnach besteht der Islam aus sich gegenseitig ergänzenden Teilen:
• Islam, wird bestimmt durch die Handlungen, die durch die fünf Säulen repräsentiert werden. • Iman, die Glaubensstruktur oder innere Landschaft eines jeden Muslims, die bestimmt wird als Glaube in Allah, die Engel, die Göttlich offenbarten Bücher, die Propheten und Gesandten Allahs, den Letzten Tag und das Schicksal. • Ihsan, das dritte Element, welches bestimmt wird als die Anbetung Allahs, als ob man Ihn sehen könnte, denn obwohl man Ihn nicht sehen kann, so kann Er uns sehen. Dieses dritte Element, Ihsan, ist direkt mit der Anbetung Allahs verbunden und mit der praktischen Umsetzung der anderen beiden und impliziert ein aktives und andauerndes Bewusstsein der Anwesenheit von Allah. Dies macht natürlich ein Herz notwendig, welches durch einen Prozess der Reinigung gegangen ist. Notwendig dafür ist, dass diese Reinigung des Herzens zu einem integralen Bestandteil des Din wird. Seit den frühesten Tagen des Islam, wurde dieser Wissenschaft von der Reinigung des Herzen der Name Tasawwuf gegeben.
Aus diesem Grund war Imam Al-Ghazali, möge Allah ihm gnädig sein, der Ansieht, dass Ihsan – die Wissenschaft des Tasawwuf – den rechtlichen Status der Fard 'Ain [die Verpflichtung für das Individuum] hat. Der Grund dafür ist, dass nach Imam Al-Ghazali das Herz eines jeden Menschen, mit Ausnahme der Propheten und Gesandten, der Reinigung bedarf. Er machte deutlich, dass dies etwas ist, was jeder Muslim braucht. Daraus resultierend sagte Abu'l-Hasan Asch-Schadhili, der Gründer der Schadhilija Sufi-Tariqa: „Jeder, der stirbt, ohne etwas von der Wissenschaft [Tasawwuf meinend] zu wissen, stirbt schwerwiegende falsche Handlungen begehend, selbst wenn er dies nicht realisiert.“ Dies liegt daran, dass Leute, deren Herzen angefüllt sind mit Unreinheiten, gezwungen sind, andere Dinge mit Allah zu assoziieren, wenn sie anbeten. Es wird aus vielen Ajats und Hadithen deutlich, dass die Beigesellung von anderen Dingen mit Allah die schlimmste aller falschen Handlung ist, selbst wenn sie unbewusst vollzogen wird. Also ist die notwendige Aufgabe, dass Herz zu reinigen, aber von was? Die Leute von Allah haben fünf innere Feinde des Menschen ausgemacht: die Nafs [die Triebseele], Schaitan, das Verlangen (Schahawat) – natürliche Instinkte wie das Verlangen nach Schlaf, Nahrung, Sex und Dinge wie Ärger und Sorge, die subtilen Sehnsüchte (Hawa) – Krankheiten des Herzens wie Stolz, Neid, Dünkel, Angeben, der Wille zu Macht usw., und die Liebe für diese Welt. An dieser Stelle sind einige Erklärungen notwendig. Der Prozess der Reinigung besteht in der Annahme der Wissenschaft des Tasawwuf. Der erste wesentliche Punkt ist ein Schaikh, der einem einen Zugang dazu eröffnet. Dann kommt die Herstellung einer Beziehung zu ihm durch den Wird [eine Reihe an regelmäßigen Rezitationen, die vom Schaikh gegeben wird]. Dann der regelmäßige Dhikr in Gemeinschaft mit seiner Erlaubnis. Gleichfalls ist es notwendig, alleine mit Allah im letzten Drittel der Nacht zu sitzen. Es ist notwendig, die Gemeinschaft mit den Fuqaha [wörtl. den Armen] zu pflegen. Der Murid muss den individuellen Hinweisen des Schaikhs folgen. Danach wird man auf den Stufen des Weges reisen, durch die das Herz fortschreitend gereinigt wird und das Licht von Allah immer weniger getrübt wird. Dieser Vorgang wird durch die fortschreitende Entwicklung des Selbst von einem Zustand zum nächsten beschrieben:
• An-Nafs Al-Ammara, das die Wahrheit leugnende Selbst mit keinem Bewusstsein um seine eigene Krankheit, welches daher auch keinen Zugang zur Rechtleitung besitzt. • An-Nafs Al-Awwama, das Selbst, welches zumindest in der Lage ist, seinen eigenen Zustand wahrzunehmen, aber zwischen den richtigen und falschen Handlungen schwankt. • An-Nafs Al-Mulhama, das inspirierte Selbst, welches in der Lage ist, zwischen dem zu unterscheiden, was ihm nutzen und schaden wird und das wählt, was es näher zu Allah bringt. • An-Nafs Al-Mutma'inna, das Selbst, welches unter jedem Umstand in Frieden und zufrieden mit Allah ist; in einem Zustand der Erleuchtung. • An-Nafs Al-Kamila, das vollkommene Selbst, sowohl erleuchtet als auch erleuchtend, rechtgeleitet von Allah und zu Allah rechtleitend, ein Brennpunkt des Lichts, ein Ort, in dem Allahs gedacht wird und durch den die Schöpfung an Ihn erinnert wird. Die Unterziehung unter diesen Prozess ermöglicht dem individuellen Muslim, Allah wahrhaftig anzubeten, ohne Ihm etwas beizugesellen. Dies ist die Erfüllung des Zweckes, für das Allah in erschaffen hat. Gleichzeitig wird ein solcher Prozess die Gemeinschaft, die ihn vollzieht, in die Lage versetzen, die an sie gestellten Aufgaben zu vollziehen.