Langeweile ist, so sagt man, ein Gefühl der Lustlosigkeit, des mangelnden Elans oder des Desinteresses. Es ist im Allgemeinen das Gegenteil von Spaß, Freude und Kurzweil. Langeweile entsteht oft durch sich wiederholende Ereignisse, aus denen man nichts Interessantes oder Aufmunterndes mehr gewinnen kann oder will. Jeder sie kennt also, die Langweile, nur wenige gehen aber so weit wie Erich Fromm, der die Langeweile für eine der furchtbarsten Plagen der „modernen“ Zeit hielt.
Jeder wird einmal in den Zustand der Langeweile gestoßen. Wer kennt nicht die langweiligen Gespräche, die keinen Inhalt finden und wo man schnell selber zum Langweiler wird? Heute gilt die Langeweile als Volksplage, die vor allem junge Leute überfällt und die oft genug für ausufernden Konsum und sogar Kriminalität verantwortlich gemacht wird. Warum habt ihr das getan? Aus Langeweile! Das Problem: Die Langeweile lauert sogar und gerade in den Maßnahmen des Zeitvertreibs und greift besonders um sich, wo man mit einigem Aufwand gegen sie vorgeht. „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt“ warnte bereits der Altmeister, der Philosophie Friedrich Nietzsche, vor dem Treibsand auf dem die Langeweile zu Hause ist.
Der Naturwissenschaftler Blaise Pascal schrieb über die – aus seiner Sicht – Nutzlosigkeit der Langeweile:
„Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.“
Der Naturwissenschaftler und damit das Ganze von der Wissenschaftlichkeit geprägte Zeitalter will also für so etwas Unnützes wie die Langweile erst gar keine Zeit mehr haben.
Ein anderer Denker, Martin Heidegger, sieht die Dinge nicht nur anders, er räumt der Langeweile sogar einen zentralen Platz in seinem Denken ein. Im Wintersemester 1929/30, also in Zeiten größter Arbeitslosigkeit und materieller Not, doziert der Philosoph an der Universität Freiburg über die existenziellen Grunderfahrungen der Einsamkeit und der Langeweile.
In seiner berühmten Vorlesung spricht Heidegger insbeondere über den Begriff der Langeweile. Sie ist für ihn nicht nur kein Übel, sondern ein Ort, von dem aus man Entscheidendes lernen kann. Für Heidegger zeigt sich gerade in der Erfahrung der Langeweile, dass die Welt als Ganzes und die einzelne Existenz auf paradoxe Weise miteinander verbunden sind. Wenn einen die Langeweile überkommt, kann man auf faszinierende Weise zu einer ersten Erfahrung der Einheit geführt werden. Der Einzelne wird vom Ganzen der Welt gerade dadurch ergriffen, dass er davon nicht ergriffen, sondern leer zurückgelassen wird. Heidegger will seine Leser bis zu dem Punkt führen, wo sie sich fragen müssen:
„Ist es am Ende so weit mit uns, dass eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?“
Kann man der Langeweile entrinnen? Heidegger sieht nichts Gutes darin, der eigentlichen Erfahrung der Langeweile durch äußere Aktivitäten oder Machenschaften auszuweichen. Es geht nicht um Ablenkung, es geht vielmehr um einen inneren und äußeren Wandel.
„Überall gibt es Erschütterungen, Krisen, Katastrophen, Nöte: das heutige Elend, die politische Wirrnis, die Ohnmacht der Wissenschaft, die Aushöhlung der Kunst, die Bodenlosigkeit der Philosophie, die Unkraft der Religion. Gewiß, Nöte gibt es überall. Gegen diese Nöte werden Programme, Parteien, Maßnahmen aufgeboten, es gibt Geschäftigkeiten aller Art.“ „Aber“, so Heidegger, „diese zappelnde Notwehr gegen die Nöte lässt gerade eine Not im Ganzen nicht aufkommen.“
Was ist der Sinn der Langeweile? Für Heidegger geht es in der Erfahrung der Leergelassenheit darum, dass der Mensch seine Ausgeliefertheit an das sich im Ganzen versagende Seiende erkennt. Mehr noch: Gerade in der Erfahrung der Langeweile und der Zeit, die ja nicht vergehen will, erfährt der Mensch seine Zeitlichkeit, genauer, dass wir es sind, die die Zeit zeitigen.
„Wenn nichts mehr geht, muss man sich selber auf den Weg machen“ heißt das Credo jeder echten Philosophie und ist wohl der einzige wahre Weg aus der Langweile hinaus. Auch ein großer islamisch-europäischer Denker, Schaikh Ibn 'Arabi, hat bereits über die Langeweile philosophiert. Zwar wusste Heidegger wenig von der arabischen Philosophie, dennoch hat er immer wieder betont, dass alle großen Denker am Ende doch das Selbe denken. Dies sieht man auf wunderbare Weise anhand der Abhandlung Ibn 'Arabis über die Langeweile, auch wenn seine Zeit natürlich eine ganz Andere ist.
Ibn 'Arabi wurde 800 Jahre lang in der arabischen Welt gelesen und reflektiert – ist aber im Westen noch eher unbekannt. Sein Werk galt lange als nur für eine „spirituelle Elite“ geschrieben, oder aber seine Werke wurden als „Esoterik“ zutiefst verkannt. Viele Passagen Ibn 'Arabis drehen sich um die Offenbarung, aber auch um die einfachen Verpflichtungen, die alle Muslime betreffen, also um die Schahada, das Gebet, die Zakat, die Hadsch und das Fasten, ohne die es – nach Ibn 'Arabi – keine echte Spiritualität geben kann.
Ibn 'Arabi betont, dass sich in der ewigen göttlichen Selbstenthüllung gegenüber den Kreaturen zeigt, dass die Schöpfung sich fortlaufend erneuert. Niemand, der das Wesen der Dinge versteht, kann daher – so Ibn 'Arabi – etwas wie „Langeweile“ verspüren – in dieser oder der nächsten Welt. Der Sinn des Daseins ist, gerade diese Veränderungen der Schöpfungen fortlaufend zu bezeugen; und sollte die Langeweile doch eintreten, ist sie – positiv gedacht – ein Hilfsmittel, sich dieses Umstandes wieder zu erinnern. „Alles fließt, mit diesem Wort lehrte schon Heraklit das Eins-sein mit den Dingen als einen dynamischen Vorgang. Nach Ibn 'Arabi:
„Die Männer des Wissens sind für immer glücklich, aber andere verbleiben in den Schatten der Verirrung und geraten auf Abwege in dieser und der nächsten Welt. Wäre da nicht die Erneuerung der Schöpfung in jedem Moment, die Langeweile würde die Wesenheiten überkommen, da die Natur die Langeweile zeitigt. Wäre es nicht für die Erneuerung der Schöpfung in jedem Augenblick, die Langeweile würde die Seienden überkommen, denn die Natur neigt zur Langeweile. Aufgrund dieser Neigung ist bestimmt, dass das Seiende erneuert wird. Aus diesem Grund sagte der Gesandte Allahs über Allah: „Allah überkommt die Langeweile nicht, also soll sie euch nicht überkommen.“ Somit entsprechen die Langeweile des Kosmos und die Langeweile des Wahren (Al-Haqq) einander. Doch niemanden in der Schöpfung überkommt die Langeweile, ausser den, der verschleiert ist, und der Allah nicht als immerzu neu schöpfend erfährt. Langeweile geschieht als das Ergebnis nicht endenden Verweilens.“ (Muqaddima 229.12)
„Er hat euch keinen Schleier auferlegt als euer Selbst.“ So fordert Ibn 'Arabi den Menschen auf, den Schleier zwischen sich und dem Schöpfer zu lüften. Und Ibn 'Arabi fährt fort:
„Manche Leute wissen nicht, dass Allah Sich in jedem Augenblick [neu] offenbart, und jede dieser Offenbarungen ist von der ihr vorangehenden verschieden. Wenn es jemandem dieser Wahrnehmung mangelt, mag er ohne Ende in einer einzigen Selbstoffenbarung [Allahs] verweilen und ihre Bezeugung für ihn langwierig werden. Dann wird ihn die Langeweile überkommen, doch Langeweile in diesem Aufenthalt ist Mangel an Ehrfurcht gegenüber der Göttlichkeit, denn „sie sind, was eine neue Schöpfung“ in jedem Augenblick „betrifft, im Unklaren.“ (50,15). Sie haben die Vorstellung, dass sich die Lage nicht ändert, also wird ein Schleier über sie verhängt, und dies führt zum Mangel an Ehrfurcht, nachdem Allah ihnen Wissen um ihrer Selbst und Sich entzieht. Also stellen sie vor, dass sie zu jedem Augenblick gleich sind.“
Diese Einsichten Ibn 'Arabis entsprechen einem geläufigen Bittgebet der Sufis, dass ich auch von Schaikh Abdalqadir As-Sufi immer wieder gehört habe: „Oh Allah, halte uns in Veränderung“. Mit anderen Worten, man kann die fortlaufende Veränderung und Neu-Offenbarung der Schöpfung nicht aus einem statischen Zustand heraus erfahren.