„Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Vielleicht aber existiert das Gericht gar nicht, jedenfalls nicht als ein von Personen bewusst geführter Prozess mit einer für den Angeklagten einigermaßen transparenten Prozeßordnung“ (Franz Kafka; „Der Prozeß“)
„In den meisten Verfassungsschutzberichten wird nicht nur über erwiesene Verfassungsfeinde berichtet, sondern auch über solche Organisationen, die von der Verfassungsschutzbehörde lediglich verdächtigt werden, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu verfolgen. Diese Praxis ist rechtswidrig. Sie findet in den Verfassungsschutzgesetzen keine Grundlage und verstößt zudem gegen das Grundgesetz.“ (Dietrich Murswiek, Staatsrechtler)
Jedes Jahr im Frühjahr das gleiche Ritual. Über ein Dutzend Verfassungsschutzämter veröffentlichen ihre Berichte, zeigen Verbindungen der Extreme auf und schaffen Assoziationen mit Gewalt und Terror. Seit einigen Jahren steht der Islamismus dabei mit im Fokus. Das ist kein Wunder. Besonders die Terrorgefahr durch radikale Muslime und ihrer Zellen sorgt die Dienste, denn ihre archaische Vorgehensweise macht die klassische Überwachung schwierig.
Aber auch unbescholtene Muslime werden in den Berichten unter dem Begriff „Islamismus“ und oft in direkter Nachbarschaft zu Kriminellen und Mördern abgehandelt. Die völlige Unbestimmtheit des Begriffs ist dabei evident: wie kann die Anwendung eines Sammelbegriffes „gerecht“ und „verhältnismäßig“ sein, der nicht zwischen schweren Straftätern und der religiösen Praxis oder auch nur Glaubensüberzeugungen – beispielsweise – orthodox praktizierender Muslimen deutlichst zu trennen vermag?
Die Assoziation, die dadurch geschaffen wird, hat schwerste Folgen. Wer einmal als „Islamist“ geführt ist, muss mit schweren Eingriffen in seine Rechte rechnen und gilt als sozial verbannt. Oft nehmen auch Online-Journalisten, hin und wieder auch unter dem Vorwurf der „eingebetteten Berichterstattung“, die Vorlagen auf und bringen sie unters Volk. Einige dubiose Online-Seiten des „privaten Verfassungsschutzes“ publizieren dazu sogar eigene Dossiers.
Die hier in verschiedenen Formen anzutreffende Logik, dass der sogenannte Islamismus eine Art Vorstufe zu Gewalt und Terror sei, ist so unerträglich wie falsch. Es ist auch kein Wunder, dass es immer weniger Muslime gibt, die sich in diesem Klima öffentlich zu ihrem Islam bekennen. So entsteht letztlich genau die Parallelgesellschaft und die geistige Ghettoisierung, die die Gegner des Islam sich so sehnlich wünschen.
Die unbefragte Grundannahme der VS-Berichte ist beinahe überall identisch. Nach Sicht der Behörden sind alle moderne Ideologien – rechts, links oder islamisch motiviert – im Grunde wesensgleich. Sie alle wollen nach dieser Logik den totalen Staat. Damit macht es sich der VS aber viel zu leicht, so zumindest die wenigen Kritiker der Berichte.
Nicht alle Äußerungen oder Glaubensaussagen von Muslimen kann man – zum Beispiel – unter dem Blickwinkel moderner Ideologien beurteilen. Zudem verschweigen die ausschließlich belastenden, aber nie entlastenden Berichte gerne, dass gerade, manchmal auch nur, orthodoxe Muslime in der Lage sind, „Terrorismus und Selbstmordattentate“ theologisch einwandfrei zurückzuweisen. Nach der bisherigen schlichten Logik der Berichte wären jedenfalls auch Zitate von Maulana Rumi oder Ibn al Arabi heute Indizien, dass diese gefährliche „Islamisten“ seien .
Den fundamentalen Unterschied zwischen traditionellem Islam und islamischem Modernismus verstehen die meisten Experten gar nicht. Der Verfassungsschutz berücksichtigt das Argument des wesentlichen Unterschieds zwischen der religiösen Orthodoxie und moderner Ideologie nur bei der Beurteilung christlicher Gruppen wie der Pius-Brüderschaft. Diese Gruppen und ihre Absichten werden als harmlos eingestuft.
In diesen Tagen werden auch andere offene Widersprüche der Verfassungsschutzideologie deutlich.
Die Aktionen um den NATO-Gipfel in Strasbourg zeigen exemplarisch, dass es noch nie einen Staat gab, der so technologisch perfekt hochgerüstet ist, so dass jede Idee eines Umsturzes praktisch verschwörungstheoretisch erscheint. Die moderne Demokratie steht nicht vor der Gefahr, an ihren inneren Feinden zu zerbrechen, sondern vielmehr – wie dies zum Beispiel Peter Sloterdijk argumentiert – vor der Schwelle, sich zu einem „autoritären Kapitalismus“ zu entwickeln.
Die Ämter haben aber auch eine anderen Grundwiderspruch zu verdecken. Die echte Gefahr für die Verfassung und Demokratie ensteht heute nicht durch irgendwelche Indianerverbände und islamistische Grüppchen, sondern durch die evidenten Verheerungen des Finanzsystems. Die Sicherheitsgesetze des Staates dürften daher künftig für die Massen der erwarteden Arbeitslosen bestimmt sein.
Da die politisch motivierten Verfassungsschutzämter das Gefahrenpotential der Verfassungsgefährdung nur „politisch“ definieren, sind sie auf dem ökonomischen Auge blind. Der „Coup de Banque“ der Landesbanken, mitsamt der ungeheuren Massen-Geldflucht auf Bananeninseln ist ihnen dabei nicht zufällig entgangen. In der Folge dürfte übrigens der Ruin der Landesbanken die künftige Verfassungswirklichkeit deutlicher prägen als radikale Gruppen und Grüppchen es je vollbracht hätten.
Schlußendlich hat der Verfassungssschutz auch auf eine andere Dimension der „Terrorbekämpfung“ nicht gerade mit überzeugender Verfassungstreue reagiert. Die in deutschen Städten operierenden „Folterflüge“ oder „Entführungen“ von Verdächtigen durch ausländische Dienste sind ein deutliches Beispiel eines unter politischem Druck de facto tolerierten „Ausnahmezustandes“. Die aktive Verhinderung der Willkür des Ausnahmezustandes sollte aber die vornehmlichste Aufgabe echter Verfassungsschützer sein.
Es ist wichtig, dass eine gesellschaftliche Debatte über die Rolle der Dienste beginnt.
Ein aktuelles Beispiel ist ein launischer Bericht des Brandenburger Verfassungsschutzes. Ein grobes Beispiel einer Fehlinformation ist dabei eine Bemerkung über eine Konferenz europäischer Muslime 2008 in Potsdam, die flugs als islamistische Veranstaltung gebrandmarkt wurde. An der Konferenz nahmen nicht nur ausländische Regierungsvertreter und Dutzende (bekannt) unabhängige Organisationen teil, sondern auch ein offizieller Vertreter der OSCE. Sein Thema auf der Konferenz war ironischerweise ein Vortrag über Islamophobie.
Die OSCE dürfte sich nun wundern, an welcher Veranstaltung sie angeblich teilgenommen haben soll.