Sarajevo ist eine jung gebliebene Stadt. Am Abend füllt sich die Innenstadt mit zehntausenden jungen Leuten, deren Islam sich weniger an Äußerlichkeiten fest macht, als an einem inneren Zugehörigkeitsgefühl. Die Atmosphäre ist auch bei dichtem Gedränge und spätabends ruhig und friedlich. Eine Bierflasche auf den Tischen ist noch immer eher die Ausnahme. Ein junge bosnische Frau, die wieder nach Sarajevo zurückgekehrt ist, erzählt uns in einem der zahlreichen Straßenkaffees, dass sie trotz ihrer Karrierechancen in Wien immer „etwas“ vermisst habe. Es war wohl nicht nur Sarajevo.
Kaum vorstellbar, dass noch vor wenigen Jahren in diesen Straßen immer wieder Zivilisten von serbischen Scharfschützen niedergestreckt worden sind. Aber auch in diesen Zeiten äußerster Konfrontation blieb die weithin sichtbare Synagoge und die zahlreichen Kirchen vor jedem Übergiff der Bosnier verschont. Das geschah ohne große Worte und verdient Respekt. Viele der Bosnierinnen, die an diesem Sommerabend hier flanieren, haben damals an einer Modenschau teilgenommen, um den serbischen Scharfschützen die kalte Schulter zu zeigen. Aber auch die Muslime, die diese Zeit intensiv erlebt haben, wollen nicht in der Vergangenheit leben.
Es regnet. Der Gebetsruf erschallt. Wir sind an dem kleinen Friedhof angekommen, an dem sich das Grab Alija Izetbegovics befindet. Ein kleines Zelt schützt vor dem Regen und ist der schlichte Rahmen unserer Besinnung. Immer noch, das spürt man in vielen Gesprächen, wird dieser Mann als der letzte große Politiker dieses Landes verehrt. Auch wenn die Unzufriedenheit über die Inpraktikabilität des von Izetbegovic ausgehandelten Dayton-Vertrags jeden Tag wächst. Izetbegovic – so hat er es mir erzählt – hatte mit der Vertragszeichnung auch diese Stadt vor der Erstürmung gerettet.
Die Gazi-Husrev-Beg-Moschee in der Altstadt gehört zu meinen Lieblingsorten in Europa. Neben der großartigen Architektur beeindruckt mich auch immer wieder das hier erfahrbare Maß des Islam. Hier braucht es keine Lautsprecher, Parteien oder Zeitungen. Hier ging es weniger um Machenschaften als um einem Ort, an dem gelebt, gefeiert, gehandelt, gelehrt und gestorben wird. Im Innenhof beobachte ich auf den Bäumen die Vögel wie zuvor in Eyüp Sultan in Istanbul oder in Mekka. Der Erfolg des Islam in Bosnien hatte über Jahrhunderte eine einfache Grundlage: die Sorge um das Gemeinwohl.
Kommunismus und Kapitalismus sind materielle Lehren, die der bosnischen Seele keinen ganzen Frieden geben. Es braucht den Geist von Markt und Moschee, so wie unser Prophet es verkörperte. Heute ist der Balkan, wenn man ehrlich ist, weniger von kulturellen Grenzen, als vielmehr von einem neuen Limes zwischen arm und reich bestimmt. Die Ungerechtigkeit nährt nun neue Untiefen einer unterschwelligen „Balkanisierung“. Junge Serben, Bosnier, Kroaten fragen sich vor allem, ob ein reiner Kapitalismus in dieser Region dauerhaft für sie funktionieren kann. Für alle Jungen stellt sich die Frage nach dem Sinn immer wieder neu.
In dem Tal, indem sich Sarajevo befindet ist Geschichte wie an einer Schnur aufgereiht. Von der Nationalbibliothek bis hin zu den Gräbern am Olympiastadion. Die ruhig fließende Miljacka spiegelt im Strom der Zeit das Schicksal. Der Islam stiftet Zivilisation, wird unterworfen, verschwindet und kehrt doch, ganz nach den geheimnisvollen organischen Gesetzen der Lehre Ibn Khalduns, wieder zurück. Markt, Moschee und vorallem die zivilen Stiftungen sind die drei Impulsgeber ohne die der Islam in Schieflage gerät. Man muß, so die Offenbarung in der Sura al-Baqara, den Islam ganz leben. Dass man den Islam ganz und in seiner Einheit erfahren kann ist das Geheimnis einiger Tekken, die sich an den Berghängen verbergen.
In den Beständen und Archiven des Bosniakischen Institutes sind die Schätze der Vergangenheit gut aufgehoben. Kluge Köpfe finden hier die alten kostbaren Schätze der bosnischen Gelehrsamkeit, der Dichtung und der Philosophie. Juristen kämpfen sich durch virtuelle Welten, lesen abertausende chiffrierte Seiten der Protokolle des Krieges der 90er Jahre. Gerade hier ist so ein Museum wichtig, weil man die bosnische Geschichte schlicht auslöschen wollte. Wer hat hier wann Geschichte gemacht, gelebt – gar verschuldet? Auf den Konferenzen in der Stadt ringen Wissenschaftler immer wieder um die Quintessenz und die Zukunft des bosnischen Erbes.
Der Modernismus hat auch in Bosnien seine zwei Angebote unterbreitet: Kritik, die aus dem Islam herausführt, oder Extremismus, der mit den Traditionen bricht und in die Vereinzelung führt. Beide Substanzen stammen aus den Laborstuben des Nihilismus und schaffen in ihrer Negativität keine neue bosnische Geschichte. Der Islam ist kein kaltes Denksystem, wohl aber ein Weg, den man gemeinsam geht. In einem Interview werde ich gefragt, ob Bosnien künftig ein Hafen für den Terrorismus sein könnte. Ich weise dies entrüstet zurück. Trotz des Todes zehntausender Muslime, trotz Srebrenica und moderner, biopolitischer Kriegsführung hat es einen bosnisch inspirierten Terrorismus „gottlob“ nie gegeben. Warum also heute? Bosnien ist für mich eher ein europäisches Gesamtkunstwerk, ein Mosaik, eine Gestalt, deren komplexe Inhalte der Intellekt zusammenfügen muss, wenn er Europa und Islam zusammen denken will.
Wegen der Renovierung des Flughafens sitze ich unerwartet in einem Bus nach Tuzla. Warum nicht. Das gibt Gelegenheit, die Schönheit der bosnischen Landschaften, die Schönheit der Schöpfung zu genießen. In den kleinen Städten sind an unzähligen grauen Wänden die Einschüsse des Krieges nicht zu übersehen. Überall entstehen schmucke neue Moscheen. An einer Steigung beobachte ich eine kleine Familie mit einem Blumenstrauß am Wegesrand, es ist eine kleine Trauergemeinde, die wohl hier das Grab eines Gefallenen besucht. Mit festem Schritt laufen sie auf eine Lichtung zu. Auf Wiedersehen, Bosnien.