Liebe Leser,
„alle politischen und staatsrechtliche Begriffe sind säkularisierte theologische Begriffe“, so heißt es zumindest in dem Buch „politische Theologie“ des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt. Der Jurist deutet mit dieser These darauf hin, dass die Entstehung der politischen Terminologie des Westens eng mit der Geschichte des Christentums und damit natürlich auch mit der Säkularisierung verbunden sind. Das heißt, für ein tieferes Verständnis der Begrifflichkeiten, die wir heute in Politik und Philosophie beinahe selbstverständlich benutzen, müssen wir uns immer auch die Geschichte und Herkunft dieser Begriffe vergegenwärtigen. Im Umkehrschluß heißt dies heute auch, das die an sich eigenständige Terminologie des Islams heute in vielen Debatten kaum noch Berücksichtigung findet.
Den Dingen den richtigen Namen zu geben, ist heute eine eigene Herausforderung, natürlich auch für ein Magazin wie GLOBALIA. In dieser Ausgabe geht es uns darum, die Faszination des Islam in Europa aufzuzeigen. In völlig unterschiedlichen Situationen, sei es in den industriellen Zentren oder in den kulturellen Kernregionen Europas, leben heute Millionen Muslime ihren Islam. Sie sehen sich als Mehrheit oder Minderheit unterschiedlichen Herausforderungen ausgesetzt. Auf dem Balkan, in Sizilien, Tatarstan oder Andalusien – überall müssen muslimische Gelehrte auch die einmalige Geschichte ihrer muslimischen Bevölkerungen lehren und bewahren. Der Islam ist Teil Europas.
Sulaiman Wilms zeigt in dieser Ausgabe in einem wichtigen Beitrag auf, wie der moderne Kampf der Begriffe sich geistig auf die Lage der Muslime in Europa auswirkt. Es geht hier um die Definitionshoheit über Begriffe, die die öffentliche Rolle der Muslime in Europa beschreiben. Die Muslime müssen hier aufpassen, dass nicht nur Dritte definieren, wer sie sind und warum sie auf ihre Weise in Europa existieren. Insbesondere der unbestimmte, öffentlich verwandte Begriff des „Islamismus“ hat heute in Europa die Lage der Muslime bereits kompliziert. Es gibt eindeutig den Versuch, die islamische Lebenspraxis in der Öffentlichkeit mit einer Ideologie gleichzusetzen.
Die heute praktizierte Unterscheidung zwischen einem „Muslim“ und einem „Islamisten“ ist in seinen Folgen für die Betroffenen heikel. Große Teile der organisierten Muslime in Europa werden bereits als „Islamisten“ diffamiert, obwohl die überwältigende Mehrheit dieser Muslime eindeutig nichts mit irgendeiner Form des modernen Extremismus zu tun hat. Fakt ist, wer als „Islamist“ markiert wird, muss in Europa ernste Nachteile und Konsequenzen fürchten. Die Definitionshoheit, was der Islamismus oder manchmal der auch so bezeichnete „konservative“ Islam ist, liegt dabei bei einigen Behörden und Medien und – natürlich – oft genug, nicht bei den Muslimen selbst. Der Geist der Freiheit, auf den Europa so stolz ist, hat für viele praktizierende Muslime wenig Wert.
Fakt ist, wie gesagt, dass die europäischen Muslime in ihrer großen Mehrheit nichts mit Ideologien zu tun haben wollen. Ihr großes Anliegen ist es, die islamische Lebenspraxis – sei es das Gebet, das Fasten, die Pilgerreise oder die Zahlung der Zakat – einfach und korrekt auszuführen. Sie etablieren Stiftungen, sie organisieren ihre Einrichtungen und sie präsentieren ihren Islam in eigenen Medien. Sie fordern so nicht nur individuelle Freiheiten ein, sondern auch das Recht, als Glaubensgemeinschaft zu existieren und eine entsprechende Infrastruktur aufzubauen. Nur dann, als vollberechtigte Gemeinschaften, können sie auch in den europäischen Städten, mit ihren Moscheen und Einrichtungen, einen konstruktiven Beitrag für das Gemeinwesen leisten.
Islam ist nicht rückwärtsgewandt. Die Muslime Europas sehen in ihren Einrichtungen der „Muamalat“ einen wichtigen Ansatz zur Lösung der aktuellen Finanzkrise. Noch weiß Europa kaum etwas von diesen ökonomischen Maximen des Islam. Mehr noch, das koranische Verbot der Zinsnahme und das Gebot des fairen Handels sind überhaupt der Schlüssel zum Verstehen, warum ein entfesselter Kapitalismus, der die Schöpfung zunehmend herausfordert, schlussendlich scheitern muss. Über Jahrzehnte war der Islam auf seine politische Funktion, auf extreme und liberale Interpretationen reduziert, nun entdeckt Europa auf dem Höhepunkt seiner Krisen endlich auch die andere, die ökonomische Seite des Islam.
Die neuen und alten, großen und kleinen islamischen Gemeinschaften sehen sich also mit guten Gründen als Teil der Lösung der zahlreichen ökonomischen und sozialen Probleme Europas. Europäische Muslime haben kein Identitätsproblem, sie sind längst keine Immigranten mehr und sie sind in ihrer Zahl und Bedeutung noch immer unterschätzt. Wer sind eigentlich die europäischen Muslime? Sie bestehen aus den originären Muslimen, die in den islamischen Regionen Europas geboren sind, den konvertierten Muslimen, die den Islam angenommen haben und aus den jungen Generationen der Muslime, deren Eltern einst nach Europa eingewandert sind und die nun ganz selbstverständlich die europäischen Sprachen sprechen.
Die Zahlen sprechen für sich. Allein in Albanien leben 2,2, Millionen europäische Muslime, in Deutschland sind es über 4 Millionen, insgesamt sind es in Ost- und Westeuropa über 70 Millionen. Gerade weil sie die europäische Philosophie und Geschichte verstehen, ist ihr Beitrag und ihre bewusste Entscheidung für den Islam für alle Muslime in der Welt so relevant und auch so interessant.
Globalia Magazine versteht sich auch weiterhin als eine Brücke zwischen Europa und der islamischen Welt, aber darüber hinaus auch als Förderer neuer und guter Beziehungen zwischen den Eliten der islamischen Welt. Zu unseren Lesern gehören bereits heute Geschäftsleute, Funktionsträger und Gelehrte in der ganzen islamischen Welt. Wir werden versuchen, hoffentlich mit Hilfe neuer Sponsoren und Anzeigenkunden ein starkes Medium aufzubauen. Mit entsprechenden Mitteln ausgestattet, kann Globalia Magazine bald eine ernste Alternative auf dem Markt internationaler Medien werden. Noch immer haben die Muslime leider eine schwache Präsenz auf dem internationalen Medienmarkt. Es ist Zeit, dies zu ändern.