«Während Geheimdienste den Standort von jedermann erfassen, hat die Bundesregierung entschieden hierzu gar keinen Standpunkt mehr einzunehmen», so konsterniert fasste Frank Schirrmacher die Ratlosigkeit des Establishment gegenüber der vom NSA-Skandal ausgelösten Bürgerrechtskrise zusammen. Auch die Große Koalition wird wohl an die Grenzen ihrer nationalen Politik stoßen. Neben der Finanztechnik ist es die Sicherheitstechnik, die das Primat der Politik grundsätzlich in Frage stellt. Die Folgen für die freie Gesellschaft sind dabei noch nicht wirklich absehbar, aber Indizien für eine fundamentale Gefährdung der Freiheit mehren sich.
Im Grunde geht es aber nicht nur um die künftige Rolle der Politik, sondern um die philosophische Einordnung der Technik. Die Frage ist ist einfach: Verhilft uns der Siegeszug der Technik zu einer neuen Freiheit oder führt sie unaufhaltsame in neue Formen der Versklavung. Martin Heidegger, der in Büchern wie «Die Technik und die Kehre» zu einem einerseits «gelassenen» Umgang mit der Technik riet, hatte bezüglich der Souveränität des Menschen im technischen Zeitalter andererseits einige Zweifel. Vielmehr würde das planetarische «Gestell» alles Menschliche und Materielle in Bestände fassen und so in ihren Systeme verwerten. Aus diesem Gedankengang lässt sich die absolute Integrationskraft der planetarischen Technik erklären. Jeder politische Widerstand – glücklicherweise auch jede Ideologie – wird unter diesen Umständen von selbst zwecklos.
Es ist ein Trend, diesen Umstand der Entkräftung des Politischen, gerade nach den verheerenden Erfahrungen mit den modernen Ideologien und ihrem absoluten Wahrheitsanspruch im Grunde zu begrüßen. Die Politik der kleinen Schritte, für die Bundeskanzlerin Angela Merkel heute steht, ist hier die logische und willkommene Konsequenz aus den politischen Albträumen der Vergangenheit. Das Demokratien «überwachen» ist in diesem Denken auch eher eine Banalität, nicht etwa eine Herausforderung, gerade noch ein Ärgernis, dass man mit einem Facebook «Ilke» oder auch nicht begegnet. Aber natürlich sind ernste Sorgen über das weitere Schicksal des politischen Menschen angebracht.
Roman Maria Koidl hat in diesen Tagen mit «Web Attack» ein Buch publiziert, dass diese Gedanken aufnimmt und problematisiert. Koidl nimmt im Untertitel das gängige und verharmlosende Motto im Angesicht des NSA-Skandals «Egal, ich habe nichts zu verbergen« auf und hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Der Grundgedanke des Buches dreht sich um das Wesen der Technik, das, wie die Lektüre zeigt, nicht etwa neutral ist, sondern uns selbst benutzt und verändert. Hier klingt Heideggers Mahnung durch, wonach die moderne Technik immer auch die Schöpfung herausfordere. Die Folgen für unsere Freiheit sind dramatisch: Denn nicht wir haben die Technik, sie hat uns in der Hand.
In «Web Attack» zeigt der Autor einige Züge der Entwicklung auf, von harmlosen bis nützlichen Innovationen, von Gags der Werbeindustrie, feinster Überwachung, bis hin zu dem Internet der Dinge. «Nach Schätzungen werden es bis zum Jahr 2020 über 50 Milliarden Dinge sein, die ihre Daten ins Internet funken», beschreibt er emotionslos die Lage. Über unsere Kreditkarten, Navigationssysteme und Mobiltelefone machen wir alle als User gezwungenerweise mit. Das Internet schafft so praktisch täglich Möglichkeiten zahlreicher Anwendungen und bindet uns gleichzeitig – in atemberaubender Geschwindigkeit – in immer subtilere Techniken ein.
Es wäre natürlich naiv zu glauben, dass die technische Revolution den Kern des Politischen dabei unberührt lässt. Die Individualisierung von Wahrheit, die Atomisierung in Facebook-Gruppen, die Aufspaltung des Politischen in kleinste Zellen lassen bereits einige Zweifel an der romantischen Idee einer mobilisierten Internetcommunity – die das Poltische für sich einnimmt oder gar stärkt – zu.
Auch hier wird man einschränkend argumentieren können, dass eben keine «ideologisches Machenschaft» das Internet zu kontrollieren vermag. Dass im Gegenteil das Internet auch autoritäre Systeme wie China zu Veränderungen herausgefordert werden oder das eben ein Mark Zuckerberg und nicht ein Hitler oder Stalin Daten unvorstellbaren Ausmaßes sammelt. Nach dem aktuellen NSA-Skandal wird natürlicher aber auch der einfache Bürger einsehen, dass wir Neuland betreten und die Freiheitlichkeit oder Demokratie künftiger Gesellschaftssysteme noch lange nicht garantiert sind, nur weil die Techniken der Herrschaft sich anders konstituieren. Diese Sorgen über die Dynamik der Netze, die den Nationalstaat antiquiert erscheinen lassen, teilen zumindest diejenigen, die ihre politische Möglichkeit als ein wichtiges Gut ihrer Existenz betrachten.
Aber «Web Attacke» zeigt noch etwas anderes: Es sind längst nicht nur Geheimdienste, die ihre Überwachung mit modernster Technik verfeinern. Es sind auch wir selbst, die Teil eines Systems «alle überwachen alle» werden. Mit Google Glass stehen zum Beispiel bald Verfahrensweisen zur Verfügung, die aus jedem Bürger auch eine Hilfspolizisten oder einen Verfassungsschützer machen können. Hier kann man mit anderen «Augen» die Kreditwürdigkeit, die politische Korrektheit, das Strafregister oder andere Fakten mit der Zielperson in Verbindung bringen.
Während der Einzelne vielleicht nur prüft, ob die Damen an der Theke verheiratet ist, verändern diese technischen Spielereien im größeren Zusammenhang den Sinnzusammenhang. «Mit der Pre-Crime-Analyse», so Koidl, «werden schon heute Verhaltensmuster potenzieller Straftäter und Terroristen ermittelt».
Es ist der Kampf gegen das Böse, der heute immer wieder zur Rechtfertigung oder auch Verharmlosung dieser Tendenzen herangezogen wird. Aber ist es so einfach? Gerade in den sozialen Medien wird eine andere, fatale Stoßrichtung neuer Techniken evident: der Umgang mit Andersdenkenden. Nach der Logik von Google ist jeder – wie früher, wenn man seine Miete bar bezahlte – verdächtig, der kein Profil in den Netzwerken hat. Wer bei Amazon Bücher kauft, bekommt Angebote, die einschätzen wollen, was der Käufer künftig denkt. Mit Suchfunktionen und Assoziationsmöglichkeiten werden Einrichtungen wie «Graph Search» bei Facebook das, so Koidl treffend, «NSA prism des kleinen Mannes».
Die Privatisierung der Dienste ermöglicht es heute auch, Privaten sich für ihre Idee von Verfassung, Verurteilung oder politischer Korrektheit einzusetzen, Wer sich die Accounts «politischer Köpfe» näher anschaut wird sehen, dass bereits zahlreiche Assoziationstechniker mit Fakten agitieren, denunzieren, Assoziationen knüpfen oder Gerüchte mit Prangerwirkung streuen. Zahlreiche Konsumenten der Netzwerke verteilen diese Informationen und Suchmaschinen nehmen sie in ihre Register auf. Schon flüchten zahlreiche Nutzer vor der Markierungslogik des Internets in virtuelle Existenzen oder aber haben eben eine lupenreine Durchschnittlichkeit, die sowieso keine gefährliche Assoziation ermöglicht. Zitiert man aber zum Beispiel, wie hier in diesem Text «#Heidegger», liegt eine Assoziation mit «Rektorat» und «Nationalsozialismus» nahe, die sich im Netz bei Bedarf auch sinnfrei assoziieren lässt.
Es sind im Grunde genommen Algorithmen, die heute in vielen Zeitungsartikeln und auch manchem VS-Bericht zur Geltung kommen, den politisch denkenden Menschen umstellen und auch das politische Denken selbst gefährden beziehungsweise verdächtigen. Auf Twitter hat ein Anonymus eine der Techniken der – so gesehen – erfolgreichen politischen Vernichtungsstrategien auf diese WEise zusammengefasst:
Politischen Gegner (Richtung nach Geschmack) angreifen leicht gemacht. Ein simpler Algorithmus:
(1) Vordenker/in auswählen
(2.1) Quote-Mining: Problematisches Zitat bzw. Teil der Biographie heraussuchen
(2.2) Falls nötig Gesamtwerk/Kontext ignorieren
(2.3) Falls (2.1) nicht erfolgreich springe zu (1)*
(3) Guilt-by-Association
(4) Win □
«Alle überwachen alle» ist wohl der logische Endzustand aus den Entwicklungsstufen staatliche Dienstherr und Überwachung hin zu privatisierten Diensten. Natürlich gilt auch hier der allgemeine Satz Paul Valerys: «Wer das Denken nicht angreifen kann, greift den Denkenden an.» Das Internet bietet hier leider viele Möglichkeiten und Techniken neuartiger Feindbekämpfung. Auffallend viele alternative politische Ansätze unterstehen heute schon der beherrschenden Logik von Assoziationstechniken. Es fällt auf, dass Positionen, Parteien oder Gruppen, die zum Beispiel den Euro in Frage stellen, schon beinahe grundsätzlich mit «Rechtspopulismus» assoziiert, teilweise auch diffamiert werden. Es bleibt jedem selbst überlassen, die Frage nach dem «Wem nützt das?» zu stellen.
Man wird jedenfalls zweifeln müssen, ob es unsere etablierten Parteien sind, die aus dieser misslichen Lage herausführen, zumal es sie es sind, die die politische Alternativlosigkeit beinahe zum Programm erheben und jede echte politische Konkurrenz fürchten. Es sind ja auch Parteien, die viele neue «Werbetechniken» des Internet bereits selbst für sich nutzen und so an der Planbarkeit neuer Mehrheiten basteln. Nötig ist auf jeden Fall eine «Community», die die Freiheit des politischen Austausches aktiv gegen Techniken und Techniker verteidigen, die den Austausch und den fairen Streit um politische Alternativen systematisch verhindern wollen. Versammlungsfreiheit, freie Rede und möglichst vorurteilsfreie Begegnung bleiben das Fundament freier Gesellschaften.