Der Individualismus hat auch eine erkenntnistheoretische Seite. Gestützt durch das Vermögen, seine eigene Welt per Mausklick zusammenzusetzen, leben wir auch zunehmend in unserer eigenen Welt. Mehr noch: Wir können die trügerische Gewalt subjektiver Wahrnehmung noch steigern, indem wir die Suchmaschinen für uns arbeiten lassen. Sie liefern das endlose Material, auf deren Grundlage wir uns einrichten können. Dieser Vorgang vollzieht sich schleichend; oft bewundere ich dabei die „radikale Subjektivität“ anderer, die kaum mehr Zweifel kennt und bekennt. Ich bemerke aber auch an mir selbst, dass ich seltener ergebnisoffen recherchiere, und den Drang verspüre, ein perfektes System zu denken; als sei der Widerspruch eine Qual, statt willkommener Inspiration.
Es gab Zeiten, in denen der Mensch zumindest das Unglück als etwas Gemeinsames erfuhr. Heute ist das komplizierter. Unglücke sind ein Politikum. Ein Flugzeug stürzt immer noch ab, aber die Reflexion über die Kausalketten, Machenschaften und Mächte, die dazu führten, sind für den allgemeinen Wettbewerb freigegeben. Ein wirklich alternatives Medium, das beispielsweise angesichts des Unfassbaren schweigt, gibt es nicht mehr. Konjunktur haben Jongleure, die mit Fakten spielen, und Zauberer, die das komplizierte Zusammenspiel von Details in Merksätze verwandeln. Das Ausrufezeichen verdrängt das Fragezeichen.
Alle Formen von Medien arbeiten sich so an den Spekulationen über das Spektakel des Untergangs ab. Es ist kein Zufall, dass alternative und etablierte Medien im Kampf um das Wirkliche aufeinander bezogen bleiben. „Die Entrüstung über journalistische Fehlleistungen wird Teil der Aufführung“, stellt der Medienethik-Professor Alexander Filipović fest. Wir sind wohl noch nicht am Ende. In der nächsten Stufe werden auch wirre Behauptungen gesellschaftsfähig wie „auch heute ist wieder ein Flugzeug abgestürzt, aber die Lügenpresse berichtet eben nicht“. Wirklich bedenklich ist dabei, dass die Gesellschaft zunehmend ihre Bezugspunkte und Koordinaten für sinnvolle Debatten bewirkt.
Im neuen SPIEGEL lese ich einen Beitrag über eine Leserbefragung. Für über 1.000 Befragte ist das Magazin zu rechts, zu links, zu brav oder zu kritisch. Mühsam recherchierte Fakten werden grundsätzlich in Frage gestellt, trotz Meinungsvielfalt und der emsigen Produktion von Themen werden noch immer – so die Leser – zu viele Meinungen vermisst. Die Redaktion der einstigen Meinungsmacher wirkt verunsichert. Marktgesetze: Recherche ist teuer, sie kostet auch Zeit, während die Produktion von Meinungen einen schnellen Takt ermöglicht. Wer kann heute noch warten?
Die Lösung ist nun eine Seite für SPIEGEL-Blogger, dort dürfen sich hunderte, kleine „Spiegelchen“ künftig ihre „Wirklichkeit“ spiegeln. Da es immer schwerer wird, Leser zu überzeugen, überhaupt nur eine Basis von Wirklichkeit zu definieren, beginnt so in den Medien eine schleichende Demokratisierung von „Wahrheit“. Aus Sicht der Macht ist dies übrigens kein Problem. Jean Christophe Rufin hatte in einem Bonmot schon darauf hingewiesen, dass „die unüberschaubare Flut von Informationen und Meinungen die beste Zensur sei“.
Kein Erkennen ist sinnvoll ohne eine Philosophie der Sammlung. Wir Muslime haben immerhin einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Unser Bezug zur Wirklichkeit wird durch eine Offenbarung bestimmt, aus der wir Bedeutungen und Sinn ableiten. Über Jahrhunderte hat unser Ritus auf Grundlage einer gemeinsamen Schule überlebt. Es ist ein Glück. Wir müssen aufpassen, dass auch unsere Wirklichkeit durch die Verbreitung x-beliebiger Meinungen ebenso immer weniger Gemeinsames hat. Im ersten Schritt beobachten wir die Produktion von Strukturen und die gedankenlose Vervielfältigung von Ansichten.