Das Vorrundenspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Schweden war an Dramatik nicht zu überbieten. Mit seinem genialen Schuss in letzter Minute wendete Toni Kroos zunächst das Ausscheiden der Kicker ab, er erschuf damit gleichzeitig ein geradezu philosophisches Lehrstück.
Foto: Agencia Brasil, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0 br
Ein Ereignis, so schreibt der Philosoph Slavoj Zizek, hat die Macht, die Vergangenheit und die Zukunft völlig neu zu schreiben. Das legendäre Tor schuf plötzlich so ein Momentum, das nicht nur rücklaufend in die Einordnung des Geschehens eingriff, sondern gleichzeitig Team, Trainer und Zuschauer neu erschaffen konnte.
Allerdings währte das Glück kurz. Nach dem endgültigen Ausscheiden gegen Südkorea drehte sich der Wind wieder. Der gleiche Toni Kroos gab nun ungewollt die Vorlage zum Gegentor. Die ehemals als selbstbewusst gefeierten Weltmeister wurden nun der Überheblichkeit bezichtigt und in ihrer Heimat endgültig zum Ziel von Spott und Hohn.
Niederlage und Sieg, Gewinner und Verlierer, Zerrüttung und Aufbruch hingen auch bei dieser Weltmeisterschaft für die Mannschaft am sprichwörtlichen seidenen Faden. Spiele mit dieser Dramaturgie erklären letztlich aber auch die Faszination, die der Fußball, nicht nur für Deutsche die wichtigste Nebensache der Welt, entfalten kann.
Mittendrin – wenn auch im Schwedenspiel nach 26 EM- und WM-Spielen nicht auf dem Spielfeld dabei – war ein genialer Mittelfeldspieler: Mesut Özil. Bundestrainer Joachim Löw ist eigentlich ein bekennender und treuer Fan des Stars, hatte ihn erstmals auf der Bank sitzen lassen. Nach der verdienten Niederlage gegen die dynamischen Mexikaner hätte der Coach sicher auch jeden anderen der enttäuschenden Mittelfeldspieler austauschen können. Löw entschied sich aus sportlichen Gründen gegen Özil und spaltete mit dieser Entscheidung naturgemäß das Fußballvolk.
Nach dem Spiel stellte der Bundestrainer sofort klar, dass er den Mittelfeldstar auch künftig brauche und Özil, mit einem gemeinsamen Bild mit Marco Reus, dass er die sportliche Entscheidung des Teamchefs – mit untadliger sportlicher Einstellung – akzeptierte. Gegen Korea wiederum gab der Trainer Özil wieder eine neue Chance und führte gleichzeitig die Kritik, er stelle die Mannschaft „politisch“ auf, ad absurdum. Nach dem Ausscheiden der Mannschaft sind nun beide, der Trainer und der Spieler, heftiger Kritik unterworfen. Ob es für die Beiden überhaupt gemeinsam weitergeht ist offen.
Gerade die Gestalt Mesut Özils zeigt, dass die Wahrheit des Spiels nicht mehr nur auf dem Platz liegt. Längst sind die Fußballer zu einer Projektionsfläche geworden; und Teil eines größeren Spiels um Macht und Geld. Für Spekulationen jenseits der sportlichen Leistung bietet sich Özil aus verschiedenen Gründen besonders an. Der junge Mann, der sich aus einfachen Verhältnissen ins Rampenlicht gearbeitet hat, ist nicht nur zur Werbeikone und zum Millionär geworden. Er ist zudem ein Deutscher mit türkischen Wurzeln, der auch gerade deswegen immer wieder massiv angefeindet wird. Während die Mehrheit der Deutschen ihn als Beispiel gelungener Integration begreift, sieht eine lautstarke Minderheit in ihm das Gegenteil. Dümmliche Kommentare zur Aufstellung des Bundestrainers wie von der AfD-Fraktionsvorsitzenden Weidel („AfD wirkt“) sprechen hier Bände.
Unüberhörbar gesellt sich hier eine rassistische Komponente zur Beurteilung seiner Person, der letztlich abgesprochen wird, überhaupt ein echter Deutscher sein zu können. Für diesen Teil der Fangemeinde ist es ausgeschlossen, dass ein deutscher Muslim, der sich nicht scheut, ein Bild seiner Pilgerreise in den sozialen Medien zu verbreiten, selbstbewusst die Nation vertritt. Man ahnte, spätestens wenn man Pfiffe gegen Mesut Özil aus der Menge hörte, dass hier nicht nur der Sport und die Fairness, sondern auch anständiges Verhalten auf dem Spiel steht.
Zweifellos spiegelt die Zusammenstellung der Nationalmannschaft heute veränderte gesellschaftliche Verhältnisse wider. Spieler wie Khedira, Rüdiger oder eben Özil erinnern uns daran. Schaut man sich zum Beispiel die Aufstellung der Mannschaft von 1974 an, sieht man die ganze Dynamik der Veränderung. Damals standen elf, sagen wir „bio-deutsche“, Spieler auf dem Platz, die sich als Individualisten verstanden und – nebenbei erwähnt – erst gar nicht auf die Idee kamen, bei der Hymne mitzusingen.
Spätestens nach dem WM-Titel 1990 und dem Rausch der deutschen Wiedervereinigung änderten sich die Rolle und die Zusammensetzung der Mannschaft. Die nationale Symbolik wurde wieder wichtiger und die Ansprüche an den Auftritt ebenso. Der Fußball sollte nun auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe für ein neues, möglichst harmonisches Deutschlandbild übernehmen. Damit änderten sich auch die Ansprüche an Spieler und Fans.
Es ist kein Zufall, dass sich die Kritik an der Figur Mesut Özils immer wieder daran festmacht, dass er die deutsche Hymne nicht mitsingt. Es gehört zur Politisierung, man könnte auch sagen Instrumentalisierung des Spiels, dass diese individuelle Haltung des Spielers nicht mehr akzeptiert, sondern zunehmend von außen interpretiert wird. Er selbst erklärte immer wieder, dass er in diesem Moment ein stilles Gebet spreche, während Teile der Öffentlichkeit unbedingt ein fehlendes Bekenntnis zu „Einigkeit, Recht und Freiheit“ von den unbewegten Lippen ablesen wollen.
Spätestens seit einem veröffentlichten Bild, gemeinsam mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan, mitten in der WM-Vorbereitung, kämpft Özil wieder gegen den Eindruck an, seine Haltung zu Deutschland sei nur eine Art Lippenbekenntnis.
Natürlich sprangen auch diverse Medien wieder auf diesen Zug auf und versuchen einen Gegensatz zwischen „Halbmond und Schwarz-Rot-Gold“ zu konstruieren. Die Idee, dass Deutschland dem Spieler etwas zu verdanken hat, wurde kaum artikuliert. Ein Phänomen, das mit der fehlenden Anerkennung gegenüber der Lebensleistung von Millionen Immigranten im Land zusammenfällt. Eine der wenigen Ausnahmen war ein Beitrag von Ulf Poschardt in „Die Welt“. „Mit seiner introvertierten Melancholie und seiner existentiellen Sorge im heideggerschen Sinne“, so Poschardt in seiner Reflexion über den Mensch Özil, „ist er deutscher und europäischer als jene Lärm-Patrioten, wie der Sportmensch von der AfD, die ihn jetzt aus dem Team schmeißen wollen“.
Es gehört zu den Charaktereigenschaften des introvertierten Özils, dass er die direkte öffentliche Konfrontation eher meidet. Özil schwieg über die ganze Vorrunde und lief auch nach der Niederlage gegen Korea schweigend und enttäuscht an den Medienvertreter vorbei.
Man versteht den Mann, der von sich selbst sagt, dass er „deutsch denkt und türkisch fühlt“, tatsächlich nach der Lektüre seiner Biographie „Die Magie des Spiels“ besser. Hier wehrt er sich gegen die üblichen Vorwürfe, die seine Karriere begleiten: Es ginge ihm nur um das Geld, er sei abgehoben und seine Entscheidung für die deutsche Nationalmannschaft sei taktischer Natur.
Ein Kapitel zum Thema „türkisch-deutsches Streitobjekt“ und der Kunst, die richtige Entscheidung zu treffen, erklärt in seiner Biographie die diesbezüglich komplizierte Seelenlage. Die Frage, ob Mesut Özil für die deutsche oder türkische Nationalmannschaft auflaufen soll, spaltet bereits 2006 seine ganze Familie. Die von ihm verehrte Mutter ist eher gegen eine Entscheidung für die deutschen Farben, der Vater dafür.
Özil muss sich also wirklich entscheiden und läuft schließlich für das deutsche Team auf. Die Entscheidung, zum türkischen Konsulat zu gehen, und den türkischen Pass abzugeben, erforderte Mut und endete dort in einem Spießrutenlauf. Und, auch dies klingt in Özil lange nach und wird heute schnell vergessen, nationalistische Fans greifen ihn an. „Er ist Türke. Er ist kein Deutscher. Wie kann er stolz auf Deutschland sein?“ In diesen Sätzen spürte Özil die Verachtung, die ihm eine Minderheit aus der Türkei damals für seine Entscheidung entgegenbrachte.
Das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen, prägt Özil. Allerdings birgt seine fulminante Karriere bald Möglichkeiten, die aus der Enge des deutsch-türkischen Verhältnisses herausführen. Mit dem Wechsel nach Madrid und später nach London wird Mesut Özil zum Weltstar. Er lebt an Orten, wo er als begnadeter Fußballer gefeiert und bewundert wird und sich kaum jemand für das ursprüngliche Dilemma seiner Identität interessiert. Niemand stört sich an seiner Herkunft und Religion, niemand erwartet politische Bekenntnisse. Endlich kann er das tun, was ihm seit den Tagen auf den Bolzplätzen rund um Gelsenkirchen am wichtigsten ist: Fußball spielen.
Wer ist also Mesut Özil? Die Beantwortung der Frage stellt sich heute wieder neu, nicht zuletzt für ihn selbst. Europäische Muslime können sich dabei ganz gut in die Gefühlslage Özils versetzen. Die Gestalt des Fußballstars erklärt sich aus verschiedenen Merkmalen: Einer Gemengelage, die sich neben dem sportlichen Genie aus den Aspekten „Muslim, Deutscher und Bürger“ bildet. Als Muslim ist er ein Kosmopolit, der sich auch in Istanbul, Madrid oder London heimisch fühlt. Sein Lebensmittelpunkt liegt noch immer unverkennbar im Ruhrgebiet und er ist – dafür hat er sich nun einmal ausdrücklich entschieden – deutscher Staatsbürger.
Vielleicht ist es gerade seine Eigenschaft als Bürger, die ihn und die Öffentlichkeit gleichermaßen fordert. Es gilt für die Öffentlichkeit, jeden Rassismus zurückzuweisen, die ihm die Bürgereigenschaft absprechen will und für Mesut Özil, seiner gesellschaftlichen Verantwortung als Nationalspieler und Vorbild nachzukommen. Um diese selbstgewählte Rolle muss ihn zwar niemand bemitleiden. Sie muss aber immer mit Respekt vor Person und Leistung begleitet werden. Ob er überhaupt noch für Deutschland auflaufen will, muss sich zeigen. Er wird wahrgenommen haben, wie unfair Teile der Presse nach der Schmach von Kasan über ihn berichteten und ihn zum Sündenbock des Ausscheidens machen wollten.
Man kann streiten, ob die Rolle des „spielenden Bürgers“ eine Überforderung ist. Sie wäre es jedenfalls dann, wenn jeder Nationalspieler, unabhängig von seiner Herkunft, einer permanenten Gesinnungsprüfung unterläge. Sport ersetzt nicht Politik. Das Schicksal der deutschen Integrationspolitik entscheidet sich nicht auf dem Rasen, sie basiert nicht auf den undurchschaubaren Zufällen eines Spiels, sondern beruht auf den Entscheidungen in den deutschen Parlamenten.