Christopher B. Krebs ist seit 2004 Professor klassische Philologie in Harvard. Vor zwei Jahren hat er seine Abhandlung über ein „gefährliches“ Buch veröffentlicht: „Die Germania des Tacitus und die Erfindung der Deutschen.“ Der Autor erklärt auf sehr spannende Weise, wie der berühmte Text des Römer Tacitus auf unterschiedlichste Weise verfälscht und ausgenutzt wurde, um an einer Art Legendenbildung zu stricken, die die Germanen, als das angebliche Urvolk der Deutschen ausweist.
In Zeiten der deutschen Nationalstaatsbildung war die Schaffung dieses Mythos nötig, um die so komplexe wie undurchsichtige Geschichten hunderter lokaler „Warlords“ auf eine gemeinsame Basis zu stellen. „Die Zeitachse zwischen der germanischen Vergangenheit und der deutschen Gegenwart war aber zerbrochen“, schreibt der Historiker trocken und „die Germanen waren keine frühen Deutschen“. Krebs schildert eindrucksvoll wie die „Germania“ zuletzt eine Art „Bibel“ der Nationalsozialisten wurde und wie noch zu Silvester 1933 der Münchner Kardinal Faulhaber vergeblich gegen den völkischen Spuk und seine Erfindungen anredete.
Natürlich – oder besser leider – haben wir Deutschen also eine Vorgeschichte, wenn es um das Zusammenleben mit Nicht-Deutschen geht. Nach den empörenden Erfahrungen hierzulande mit allen Formen des Nationalismus wissen wir, dass jeder Nationalismus per Definition auch ein Rassismus ist. Deswegen ist es wichtig, dass unsere neue Identität auch eine offene Definition der Deutschen umfasst. Natürlich ist deswegen Mehmed, der Deutsch spricht und hier lebt und seine Kinder, genauso „deutsch“ wie ich oder meine Kinder.
Rassismus ist zweifellos eine anti-religiöse Haltung, die sich mit keiner Offenbarung in Einklang bringen lässt. Es gibt keine Hochzivilisation, die auf Rassismus beruht. So bleibt uns als eigentliches identitätsstiftendes Merkmal die Sprache, die – wie es schon Ibn al-Arabi ausdrückte – unsere tiefere Identität stiftet. Jacob Grimm fragte dann auch zu Recht: „Was haben wir (Deutsche) denn Gemeinsames als unsere Sprache und Literatur?“
Es ist deswegen sehr wichtig, dass die in Deutschland lebenden Muslime sich zur deutschen Sprache bekennen, sie sprechen und – wie der Schriftsteller Feridun Zaimoglu eindrücklich beweist – möglichst bis hin zum Meisterhaften beherrschen.
Das Buch über den Tacitus-Mythos korrespondiert übrigens mit einer Erfahrung, die ich immer wieder mache, wenn ich mit Deutschen oder Türken über unsere Heimatländer austausche. Die Frage, „was ist ein Deutscher?“ oder „was ist ein Türke?“ ist im Grunde kaum zu beantworten. Mehr noch: Gerade die, die besonderen „Nationalstolz“ zeigen, sind des Öfteren um so mehr sprachlos, wenn es um eine kluge Eigendefinition geht; eine Beschreibung, die über das rituelle „Fähnchenschwenken“ oder die Leidenschaft für das heimische Fußballteam hinausgeht.
Je mehr das Nationale mitschwingt, desto wichtiger wird natürlich die Entgegensetzung mit dem angeblich Fremden. Dies gilt nicht nur für Deutsche. Während ich in der Türkei selbst diesbezüglich eine eher osmanisch-integrative Offenheit gegenüber dem Fremden erlebe, sind viele türkische Organisationen hierzulande noch sehr „türkisch“ unterwegs. Die Herkunft ist noch immer das entscheidende Merkmal und im Gegensatz zur Nationalelf, der CDU oder dem ADAC – wo sich immer mehr Deutsche mit türkischen Wurzeln präsentieren – finden sich in diesen Einrichtungen noch immer „nur“ Türken. Aus meiner Sicht hat dieser Umstand nichts mit dem Islam selbst zu tun.
Viele Forderungen dieser Verbände, die oft aus einem Mix von säkularen und religiösen Überzeugungen bestehen, sind ganz offensichtlich von den Interessen der türkischen Innenpolitik bestimmt und – wenn es sich um islamische Organisationen handelt – auch nicht von den Interessen der in Deutschland lebenden Muslime geleitet. Hierher gehört natürlich auch die klare Unterscheidung – und nicht etwa die Gleichsetzung – zwischen „türkischer Kultur“ und den Verbindlichkeiten des Islam. Ein anderes Thema wäre ein vertiefter Blick auf das osmanische Selbstverständnis, gerade auch im Vergleich zur nationalstaatlichen Ideenwelt.
Es ist jedenfalls bedauerlich, dass es den Dachverbänden bis heute nicht gelingt, eine Vision einer gebenden, kulturell-aktiven und fördernden islamischen Gemeinschaft in Deutschland zu entwickeln. Es scheint eher eine diffuse Angst zu herrschen, dass ohne die antiquierten ethnischen Trennlinien die eigene Form zerbricht und dass man sich selbst endgültig „fremd“ wird.