Mehr als 100 000 Iraker sind bisher aufgrund der US-Invasion gestorben – wo ist die Scham, wo die Wut? Eine Reflektion von Scott Ritter, abgedruckt in der „Jungen Welt“:
Das volle Ausmass der menschlichen Verluste im Krieg gegen den Irak ist jetzt bekannt. Juengste Schaetzungen serioeser Forschungsinstitute zeigen, dass mehr als 100000 irakische Zivilisten infolge der US-gefuehrten Invasion gestorben sind, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Das ist ein vernichtendes moralisches Urteil fuer unsere Laender. Zivile Opfer sind immer eine tragische Realitaet moderner Kriege gewesen. Aber der Konflikt im Irak haette anders laufen sollen – die amerikanischen und britischen Truppen waren losgeschickt worden, um die Menschen im Irak zu befreien, nicht um ihre eigene Gewalttyrannei dort auszuueben.
Es stimmt mit wenigen Ausnahmen, dass die Zivilisten, die bei Bodenkaempfen starben, keine absichtlichen Ziele, sondern zufaellige Opfer moderner Kriegsfuehrung waren. Aber eine kuerzlich in der britischen Medizinfachzeitschrift Lancet veroeffentlichte Studie schaetzt, dass die allermeisten Zivilisten bei Luftangriffen getoetet wurden, und fuer diese Opfer gilt das nicht (siehe jW vom 30./31.10. und 3.11.).
Die Tatsache, dass die meisten Bombenmissionen im Irak heute genau vorausgeplant sind und angeblich sorgfaeltig geplante Ziele treffen, klagt alle an, die diesen Krieg im Namen der Freiheit fuehren. Wenn diese Ziele so praezise sind, dann kommen diejenigen, die sie aussuchen, nicht um die Tatsache herum, dass sie beim Versuch, den Feind zu zerstoeren, mit Vorbedacht unschuldige Zivilisten zur Zielscheibe machen. Einige wollen diese Zivilisten als „Kollateralschaeden“ abtun, aber wir duerfen nicht vergessen, dass die Regierungen Grossbritanniens und der USA eine wohlueberlegte Entscheidung getroffen haben, in einen Konflikt ihrer Wahl einzutreten und nicht in einen, der ihnen aufgezwungen wurde. Wir haben den Irak ueberfallen, um die Iraker von einem Diktator zu befreien, der nach einigen Schaetzungen fuer die Ermordung von 300000 seiner Untertanen verantwortlich ist – wenn auch nie jemand in der Lage gewesen ist, mehr als einen kleinen Teil dieser Zahl nachzuweisen. Wenn sie stimmt, hat Saddam Jahrzehnte gebraucht, um diese Horrorstatistik zu erreichen. Die USA und Grossbritannien, so scheint es, sind im Irak in nur 18 Monaten auf ein Drittel dieser Opferzahl gekommen.
Wenn es um den Irak geht, sind wir alle moralische Feiglinge. Unsere kollektive Unfaehigkeit zu Scham und Zorn angesichts einer Schaetzung von 100000 toten irakischen Zivilisten als Ergebnis eines illegalen und ungerechten Kriegs verurteilt uns nicht nur, sondern verleiht denen, die uns bekaempfen, neue Glaubwuerdigkeit. Die Tatsache, dass ein Krimineller wie Osama bin Laden am Vorabend der Praesidentschaftswahlen ein Video verbreiten kann, dessen Botschaft von vielen rund um den Globus als nuechterne Argumentation begriffen wird, ist der brutalste Beweis dafuer, dass die Politik der USA und Grossbritanniens nach dem 11. September voellig versagt hat. Der Tod von 3000 Zivilisten an jenem grauenhaften Tag ist eine Tragoedie. Unsere fortgesetzte Gleichgueltigkeit gegenueber einem Krieg, der so viele Unschuldige abgeschlachtet hat und weitere toeten wird, ist in vieler Hinsicht eine noch viel groessere Tragoedie. Nicht nur wegen der Zahl der Toten, sondern weil diese Toten durch unsere Hand gestorben sind – im Verlauf einer Aktion, die mit nichts zu rechtfertigen ist.
* Der Autor war als US-Marine am Golfkrieg 1991 beteiligt und danach bis 1998 als UN-Waffeninspekteur im Irak taetig. Uebersetzung aus dem Englischen: Annette Schiffmann