Eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben, ist heute kein leichtes Unterfangen. Es mag angesichts der sich überschlagenden Bilder von Revolten, Unruhen und Katastrophen einerseits an der fehlenden Ruhe scheitern, sicher aber auch an der nötigen Übersicht.
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Der britisch-indische Intellektuelle Pankaj Mishra wagt sich nun sogar an eine Art Weltgeschichte, in Form einer politischen Situationsbeschreibung, die nicht etwa das einmalige Chaos leugnet, in dem sich Teile der Welt befinden, wohl aber die Kontinuität geistiger Entwicklungen seit der Aufklärung ebenso ins Bild rückt. Schon im 18. Jahrhundert beginnt, angesichts der Revolution neuer Techniken der Macht und Ökonomie, eine Geschichte der Unzufriedenen, die zur Zielgruppe von Demagogen und Politikern werden.
„Das Zeitalter des Zorns“ ist auch ein Buch, dass den Islam, der seit den Terroranschlägen des 11. September in den Fokus geriet, aus dem Mittelpunkt der Ursachenforschung rückt. Für einige Jahre hatte das spektakuläre Ereignis eines von Muslimen praktizierten „aktiven“ Nihilismus vom Anteil des Westens an den Krisen dieses Jahrhunderts abgelenkt. Die Idee der Hegung des Islam – sei es durch Regimewechsel oder geopolitische Interventionen, aber auch das Vorhaben einer positiven Politisierung der Muslime – durch einen staatlich geförderten, reformierten Islam, steht heute, so zumindest aus der Sicht Mishras, im Verdacht, das Problem der Radikalisierung aus einer tieferen geschichtlichen Betrachtung herauszubrechen.
Zudem verhindert der politisierte Diskurs über die Muslime, der den Islam als Teil eines Problems darstellt, die Kenntnisnahme der sozialen und ökonomischen Elemente dieser Lebenspraxis und damit letztlich die Idee, dass der Islam, zumindest theoretisch, auch Teil einer Lösung sein könnte.
Wie kaum eine andere Veröffentlichung der letzten Jahre erscheint die kluge Analyse zur richtigen Zeit und bietet auch die willkommene Chance für ein interkulturelles und interreligiöses Gespräch über die drängendsten Probleme dieser Epoche. Die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, der bevorstehende EU-Austritt Großbritanniens und nicht zuletzt die Wahl des Geschäftsmannes Trump zum US-Präsidenten setzten den Rahmen einer tiefgreifenden Umwälzung, die es natürlich nicht erlaubt, alle Abgründe auf die Frage einer einzigen Religion zu projizieren. Das Hamburger G20-Treffen, mit den wichtigsten Staatsmännern der Welt, die gerührt Beethoven lauschten, und einem Mob auf der Straße der ungerührt randalierte, sind ein weiteres Zeichen für eine offene Diskussion über die Widersprüche aktueller Politik, jenseits vorschneller Schuldzuweisungen.
Natürlich hat auch, um das vorwegzunehmen, für Mishra die Radikalität von Muslimen etwas mit dem Islam, seinen Deutungen und seiner Geschichte zu tun. Er fügt allerdings dem in die Geschichte und in die Zukunft gleichermaßen wirkenden Diskurs um den politischen Islam wichtige Pointen ein. Der Modernismus der heutigen muslimischen Parteiungen zum Beispiel, setzten für Mishra gerade den Bruch mit den islamischen Quellen und dem muslimischen Klerus voraus. Stattdessen zeichnet radikalisierte Muslime heute, wie andere Radikale auch, ein „allgemeines existentielles Ressentiment hinsichtlich des Seins anderer Menschen, ausgelöst durch ein intensives Gemisch aus Neid und dem Gefühl der Erniedrigung und der Ohnmacht“ aus.
Der Bruch mit der islamischen Tradition erklärt sich für den Intellektuellen daraus, dass die antiwestlichen Fanatiker gerade im Westen in die Schule gingen und mit deren radikalen Philosophen geistige und psychologische Affinitäten fanden. Das Übersehen dieses Phänomen wirkt sich bis in die aktuellen Debatten aus: „So wird denn in jener intellektuellen Heimarbeit in Sachen Islam und Islamismus, die nach jedem Terroranschlag auf Hochtouren läuft, nur selten über die Tatsache gesprochen, dass es der Revolutionsstaat Frankreichs war, der erstmals den Terror in den politischen Bereich einführte.“
Überhaupt ist das 18. Jahrhundert für Mishra entscheidend, weil es den Bruch, mit der bis zum 17. Jahrhundert in Europa alleine mächtigen Offenbarungsreligion, dem Christentum, vollzog. Der Mensch ging bis zu diesem Schnitt nicht davon aus, dass er es war, der die Welt formte, vielmehr wurde er von der Welt geformt. Jetzt kehrten sich die Verhältnisse um. Die Regeln für die Eroberung der Welt, durch neue Techniken der Macht, von der Kriegstechnik bis zum Bankenwesen, die nun möglich wurde, sollten von Denkern und Wissenschaftler formuliert werden. Ihre Diskussionen und Streitereien über die Zukunft der Gesellschaft und ihrer Institutionen wirken bis in die heutige Zeit hinein.
Voltaire lobte beispielsweise zunächst eine der wichtigsten Erfindungen der expansiven Ökonomie, die Londoner Börse, als weltliche Verkörperung sozialer Harmonie: „Hier treten der Jude, der Türke und der Christ miteinander in Unterhaltung, als wären sie Glaubensgenossen, und nennen nur denjenigen einen Ungläubigen welcher Bankrott ist“. Natürlich blieben derartige Hoffnungen auf die harmoniestiftende Wirkung der neuen Finanztechniken eine Illusion. Rousseau, der Gegenspieler Voltaires, schäumte bereits „das Wort Finanzen sei ein Sklavenwort“ und folgerte ideologisch, dass die neuen Finanzsysteme schlicht die Seele korrumpieren.
Auseinandersetzungen über die gerechte Verteilung des Reichtums, das Agitieren gegen die Salons der Reichen und der Missmut gegenüber der Dekadenz von Monarchien und Königshäusern leiteten zu den großen gesellschaftlichen Fragen der Gerechtigkeit über und bereiteten gleichzeitig das Feld für Ressentiment, Ideologien und Terror vor. Aber auch in der restlichen Welt lösten die geschichtsmäßigen Innovationen, insbesondere der Ökonomie, brachiale Veränderungen aus. In der islamischen Welt ging es dabei nicht um ein Einverständnis oder Prüfung der neuen Angebote, sondern nur noch um die schlichte Durchsetzung der neuen Ansprüche der Globalisierer.
Für Mishra sind es gerade die russischen, italienischen und deutschen Philosophen aus dem 18. Und 19. Jahrhundert, die nun in der islamischen Welt nachhaltig Eindruck machen und die inhaltlichen Reaktionsmuster dieser Welt bestimmen. Der moderne politische Islam entwickelt dabei einen ebenso neuen Machtwillen, der sich nicht mehr durch das islamische Recht begrenzen lassen will. Für ganze politische Generationen der islamischen Welt ging es nun darum, die westlichen Techniken zu kopieren, für die eigene Ziele zu nutzen und bestenfalls noch mit dem Adjektiv „islamisch“ zu versehen. Die paradoxe Idee der „islamischen“ Bank gehört genau hierher.
Natürlich versucht sich auch Pankaj Mishra an der Frage, wie man sich aktuell vor den alten Dämonen des Faschismus, Anarchismus und Nihilismus befreien kann, und damit im Grunde aus der Geschichte lernen und so eine positivere Zukunft anstreben könnte. Für ihn, den global denkenden Intellektuellen, ist das keine Frage von Links oder Rechts und ebenso keine Frage der religiösen Verortung. Im Kern dreht sich sein positiver Ansatz um die Beantwortung der alten europäischen Fragen nach der Gerechtigkeit, der Mäßigung politischer Gewalt und der Verhinderung einer Identitäts-Politik, die auf Feindbilder und Ressentiment zurückgreifen muss.
Die Beantwortung der aktuellen Krisen darf dabei auch das Grunddilemma dieser Zivilisation nicht verdrängen. Mishra bringt sie mit der Feststellung auf den Punkt, dass es „mehr Sehnsüchte gibt, als sich im Zeitalter der Freiheit und des Unternehmertums verwirklichen lassen“. Kurzum, es ist kaum zu erwarten, dass sich eine friedliche Welt auf Grundlage unserer individualisierten, grenzenlosen Konsumgewohnheiten, die heute im globalen Maßstab nachgeahmt werden, überhaupt bewerkstelligen lässt.
Gerade der sogenannten Dritten Welt ist es aber bisher nicht gelungen, hier ihren eigenen Beitrag aus philosophischer oder religiöser Tradition zu bergen. Nach Mishra neigen chinesische, russische, türkische und indische Führer vielmehr zu einem autoritären Kapitalismus, der sie schließlich reich gemacht hat und zu einem Rückfall zum Nationalismus, der ihren wachsenden Bevölkerungen aus entwurzelten Bürgern Sinn vermitteln soll. Bei ihren Rechtfertigungsnarrativen handle es sich dabei, so seine zugespitzte Kritik, um unvermeidlich hybride Gebilde: „Mao plus Konfuzius, heilige Kuh plus smarte Städte, Putinismus plus orthodoxes Christentum, Neoliberalismus plus Islam“.
Dass Pankaj Mishra hier Recht haben könnte, zeigt ein Blick auf den Hamburger G20-Gipfel, der insoweit Einheit vermittelte – man bedenke nur an die Bewältigung der Finanzkrise – als niemand der angereisten Staatschefs, ganz unabhängig vom Kulturkreis, eine Alternative aufzuzeigen in der Lage war. Die europäischen Hoffnungen auf eine Welt ohne den Rückfall in Nationalismen verkörperte am Ende der junge französische Präsident, der allerdings auch keinen Weg nennen konnte, wie das grenzenlos fließende Kapital in einer globalen Welt ohne starke Nationalstaaten künftig politisch kontrolliert werden soll.
Vielleicht ist es so gesehen an der Zeit, dass Muslime sich auf andere Weise mit ihrer Geschichte auseinandersetzen und die Möglichkeit prüfen, ob sie Gründe finden, für eine fundierte kapitalismuskritische Position, die aber ohne Rückfall in die alten Ideologien auskommt. Hierher gehört einerseits, mit dem Denker Pankaj Mishra über den Einfluss der westlichen Denker auf den politischen Islam nachzusinnen und das unterbrochene Gespräch mit den eigenen Rechtsgelehrten zu führen, wie denn eigentlich ein gemäßigter Kapitalismus aus dem Islam heraus begründet werden könnte.