Keine Frage: Die neue Biographie von Rüdiger Safranski über Johann Wolfgang von Goethe ist ein Lesegenuss. Auf 650 Seiten erzählt der Philosoph – detailreich und über viele Passagen brillant – die wichtigsten Episoden im Leben des Dichters, erklärt seine Fähigkeiten, Abgründe, Höhepunkte und schafft so eine faszinierende Einführung in das einmalige „Kunstwerk des Lebens“.
Goethes Forscherdrang hin zu den Phänomenen, die seltene Hochzeit von Geist und Politik in der Weimarer Zeit, sein unerschöpflicher Gestaltungswille, aber auch seine menschlich-allzumenschlichen Neigungen, Freundschaften und Abenteuer regen den Leser noch heute an. Und sei es auch nur, um festzustellen, dass so ein Leben heute eben nicht mehr möglich ist. Oder doch?
Safranski ist diesbezüglich wohl eher Pessimist. Auf dem Buchrücken des Bestsellers schreibt er bezeichnend: „Solange man sich in Goethe vertieft, wird man zu seinem Zeitgenossen. Dann wieder ist beim Auftauchen der Abgrund spürbar, der uns von damals trennt. Und doch bleibt da etwas: der tröstliche Gedanke, dass ein solches Leben möglich war.“
Es scheint also, als wäre das Goethe-Studium für Safranski eher eine rückwärtsgewandte Übung, eine Art Hommage an, die im Grunde vergangenen Zeiten. Nur: Ist das wirklich so? Sollte Nietzsche etwa Recht behalten, dass das Ereignis Goethe für uns Deutsche ein „Zwischenfall ohne Folgen“ sei?
Sicher nicht. Vor allem, wenn man die Brisanz des Goetheschen Denkens und damit die andauernden Folgen dieser Gestalt sich vergegenwärtigt. Die Safranski Biographie hilft dabei, als gelungene Sichtung des Sachverhalts, aber, sie entscheidet sich nicht wirklich für die Schlüsselthemen, die uns heute betreffen.
Ein Thema hat unlängst Sarah Wagenknecht in der „FAS“ herausgearbeitet. Der Widerstreit zwischen Faust und Mephistopheles ist heute der Widerstreit in uns, zwischen unserer möglichen, ökonomischen Freiheit und unserer sklavischen Abhängigkeit an das Finanzsystem. Das böse Wort der Mittäterschaft – angesichts der Folgen dieses Systems – will man dabei erst gar nicht in den Mund nehmen.
Hinzufügen muss man aber – zu dem Klugen, was Sarah Wagenknecht bereits andenkt – unbedingt das Münzgutachten Goethes, dessen Folge seine innere und öffentliche Abkehr vom Unwesen des Papiergeldes ist. Im Faust, zweiter Teil, entwarf Goethe bereits den Meisterplan, der durch die Magie der Zettelbanken erst möglich wird. Sogar der Chef der Bundesbank hat unlängst an diese Seite Goethes erinnert. Geht es inmitten der Eurokrise und der „wundersamen Geldvermehrung“ eigentlich noch aktueller?
Nun war Goethe kein Phantast und sich früh bewusst, dass die moderne Technik ein Schicksal ist; eine Art und Weise wie sich Welt uns offenbart und so der Idee absoluter menschlicher Souveränität und Gestaltungskraft gehörig in die Quere kommen wird. Auch der tragische Irrweg über die Ideologien, die bösartige Machtergreifung des Extremismus, konnte den Siegeszug der Technik nur beschleunigen, sicher nicht verhindern. Ideologie blieb zum Glück nur eine schlimme Episode der deutschen Geschichte. Hoffentlich – denkt man an die Debatten dieser Tage – ist unsere Freiheit nachhaltiger. Nur: Wie der allgegenwärtigen Macht der entfesselten Finanztechnik heute entkommen, ohne gleichzeitig einen Rückfall in das Mittelalter einzuleiten? Mit welchen Kräften?
Goethe war sich zeitlebens bewusst, dass nur ein lebendiger Zugang zur „Offenbarung“, zur Sprache an sich, die Wahrnehmung der Ganzheitlichkeit unserer Lebensverhältnisse, schlussendlich das Bekenntnis zur Einheit die unvoreingenommene Sicht auf das Menschen Los birgt. Der Skandal, den Goethe auslöste, als er sich gegen das restliche Europa positiv mit dem Islam beschäftigt und die Eindeutigkeit, mit der er das Christentum „denkerisch“ und „testamentarisch“ zurückwies, ist eines der bleibenden Rätsel, die es für uns zu lösen gilt. Safranski löst es nicht.
Stattdessen versucht er mit allen Mitteln, die Nähe Goethes zum Islam zu relativieren; auch, indem er paradoxerweise die theologischen Maßstäbe der „Taliban“ auf den Freigeist mit seinen produktiven Widersprüchen anzuwenden versucht. Goethe, hier Vorbild, denkt aber niemals in religiösen Systemen. Safranski scheint dies zu wundern, als gäbe es nicht die weite Straße, auf der viele Muslime „nach ihrer Façon“ glücklich werden.