Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

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126 Gelehrte

Ich lese heute den überaus wichtigen „offenen Brief“ der 126 muslimischen Gelehrten an den so genannten Kalifen der IS. Der Text geht in seiner Substanz über die manchmal gebetsmühlenartig vorgetragenen Distanzierungen hinaus. Für alle Muslime, die sich an diesen Debatten beteiligen wollen, ist das genaue Studium dieser Art von Texten ein Muss. Er erinnert an wichtige „Standards“, an „Logik“ und „Denkregeln“; überhaupt an die wesentlichen Voraussetzungen echter muslimischer Jurisprudenz. Selbstverständlich muss das Maß, die Einschränkungen und die Barmherzigkeit islamischer Praxis in jeder Gemeinschaft aktiv vermittelt werden. Auch die Moscheen in Deutschland müssen zeigen, dass sie über einen Zugang zu diesen unbestechlichen Quellen verfügen.

Man kommt nach der ersten Lektüre der Abhandlung auch zu dem Schluss, dass wir heute zweifellos über eine ausreichende Zahl von kleinen und großen „Politikern“ verfügen, aber uns nur (noch) eine kleine Zahl ausreichend gebildeter Juristen zur Seite steht. Die ungezügelte Verbreitung von x-beliebigen Meinungen hat dagegen Konjunktur. Die Unterscheidung von politisch-moralischer (der Zweck heiligt die Mittel) und rechtlicher Argumentation gelingt vielen Muslimen so nicht mehr.

Vor allem junge Leute werden durch diese Gelehrten erinnert, dass das Urteilen ohne entsprechende Bildung eine der größten Gefahren dieser Zeit darstellt. In der Überforderung, die sich aus der ungeheuren Beschleunigung der Produktion von Bildern und den daraus folgenden Kurzschlüssen ergibt, liegt das Dilemma. Was soll man noch sagen, wenn Jugendliche nach einem Internetschnellkurs zu einer gnadenlosen und totalitären Weltsicht verführt werden?

Der Anspruch von Recht geht über jede Parteilichkeit hinaus. Wie viele Muslime in Deutschland sind übrigens bereit, den Text der 126 Gelehrten sinngemäß auch auf die Hamas anzuwenden? Als Jurist gilt es natürlich zunächst, immer den Sachverhalt zu klären, aber zur Glaubwürdigkeit der Lehre gehört naturgemäß auch, beweisbare Kriegsverbechen im eigenen Feld klar zu benennen und zurückzuweisen. Dabei spielt das Ausmaß des Verbrechens übrigens keine Rolle. Nur Ideologien verzichten auf diese Prinzipien.

Hier – in der Freiheit rechtlicher Beurteilung vor Bevormundung – liegt überhaupt ein bezeichnender Widerspruch, der sich für mich aus der Politisierung des Rechts im so genannten politischen Islam ergibt. Teile der Lehre sind auch deswegen unglaubwürdig geworden, weil sie oft „taktisch“ und „reaktiv“ agiert, viel zu selten aber aktiv die unbequemen Debatten dieser Zeit anspricht. Junge Muslime haben auch für dieses Phänomen der Widersprüchlichkeit ein feines Gespür.

Zur Qualität einer Lehre gehört auch ein gewisse Ganzheitlichkeit. Naturgemäß schweigen aber Gelehrte – gerade unter den Rahmenbedingungen des politischen Islam (Staat, Diktatur, Verein) – beispielsweise zu Fragen der Ökonomie, sei es die korrekte Erhebung der Zakat, das Zinsverbot oder das fragwürdige Banking.

Der Link zum Brief der Gelehrten:
http://madrasah.de/leseecke/islam-allgemein/offener-brief-al-baghdadi-und-isis