Bei vielen Debatten um den Islam wird man das Gefühl nicht los, dass Irrelevantes in epischer Breite, aber wirklich Relevantes selten diskutiert wird. Natürlich hat der Islam, der ja immerhin über eine Milliarde Menschen geistig bindet, auch bedenkenswerte und aktuelle Positionen. Ein Beispiel dafür ist die islamische Position zum Handel mit sogenannten Futures im Agrarbereich. Nach dem islamischen Recht sind diese Handelsaktivitäten, die die Möglichkeiten eines freien Marktes ausnutzen, klar verboten.
Fakt ist, die sogenannte Lebensmittelkrise ist heute so dramatisch wie künstlich. Die nach der Bankenkrise „populär“ gewordenen Spekulationen einiger Hedge-Fonds mit Lebensmitteln sind, natürlich auch aus islamischer Sicht, an Zynismus kaum mehr zu überbieten. Bedenklich sind die absehbaren geistigen Folgen. Einige Befürworter eines freien und entfesselten Kapitalismus sehen, angesichts des Ansteigens der Weltbevölkerung, bereits in den Hungerkatastrophen eine Art „Regulativ“, dass man „vernünftigerweise“ einfach hinnehmen müsse.
Ein erheblicher Teil der internationalen Spekulation mit Nahrungsmitteln findet an der Chicagoer Börse (CHX) statt, wo mehrere Hedge-Fonds, Investmentbanken und Pensionsfonds ihre Aktivitäten in den letzten beiden Jahren beträchtlich verstärkt haben. Nach der Logik dieser Strukturen ist der Handel mit noch ausstehenden Ernten allein unter dem Gesichtspunkt künftiger Renditen zu betrachten. Die Folgen sind erschütternd.
„Das ist das neue Gesicht des Hungers: Millionen Menschen, die vor sechs Monaten noch nicht zu den Hungernden zählten – heute aber schon.“ Mit diesen Worten kommentierte Josette Sheeran, Direktorin des UN-Welternährungsprogramms (WFP) , den „stillen Tsunami“ des Hungers, der mehr als hundert Millionen Menschen auf allen Kontinenten akut bedroht.
Der eigentliche Grund für die „Nahrungsmittelknappheit“, so Finanzexperten, ist die Warenspekulation nach dem Zusammenbruch der Märkte für Finanzderivate. Auf der verzweifelten Suche nach neuem schnellem Profit ziehen Händler Milliarden Dollar aus Einlagen und Hypothekenpapieren ab und werfen sie in Nahrungsmittel und Rohstoffe. Wo es vorher um Häuser, Steine und Anlagen ging, geht es jetzt aber um das nackte Leben. Dieses Casino-Verhalten nennt man in Fachkreisen den ‚Waren-Superzyklus’, und vermutlich führt es zu Hunger in epischen Ausmaßen.
Für viele Arme sind die Preise des „neuen Marktes“ unerschwinglich. Die Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel wie Getreideprodukte, Speiseöl und Milch sind seit 2000 kontinuierlich gestiegen. Aber seit die Finanzkrise sich 2006 in den USA bemerkbar machte, steigen sie dramatisch. Der durchschnittliche Weltmarktpreis für Reis ist seit Anfang 2006 um 217 Prozent angestiegen, für Weizen um 136 Prozent, für Mais um 125 Prozent und für Sojabohnen um 107 Prozent. Wie laufen die umstrittenen Transaktionen ab? Großinvestoren wie Hedge-Fonds oder Pensionsfonds kaufen so genannte Futures, das sind Anteile an grundlegenden Versorgungsgütern und Lebensmitteln, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft geliefert werden. Wenn der Preis der Ware zwischenzeitlich deutlich steigt, kann der Investor einen hohen Profit einstreichen. Im Licht der aktuellen Nahrungskrise sind so beträchtliche Profite garantiert.
Das Desaster anderer Leute ist bei dieser isoliert ökonomischen und asozialen Denkweise ein bloßer Rechenfaktor. Große Naturkatastrophen, wie die kürzliche Dürre in Australien, die die Nahrungsproduktion beeinträchtigen und den Preis von Grundnahrungsmitteln in die Höhe treiben, sind für die Großinvestoren letztlich gute Nachrichten. Verschärft wurde die Lage durch die Idee des Biotreibstoffes. Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Ernährung, Jean Ziegler, nennt den Anbau für Agrotreibstoff auf Kosten der traditionellen Landwirtschaft bereits ein „Verbrechen gegen die Menschheit“.
Es ist interessant, dass in unserer Industriegesellschaft angesichts dieser dramatischen Phänomene nicht eine lautstarke Wertedebatte ausgelöst wird. Das mag daran liegen, dass wir als Bürger noch immer existenziell zwischen Politik (Moral) und Ökonomie (Geschäft) sauber trennen. Das Bequeme an dieser Trennung ist, dass wir für die ökonomischen Verwerfungen keinerlei politische Verantwortung tragen müssen. Die Geschäfte machen ja andere. Im Grunde akzeptieren wir so längst lautlos, dass in der Globalisierung nicht die hilflose Politik, sondern allein „ökonomische Zwänge“ das Geschehen diktieren.
Dringende politische Forderungen bleiben politischen Außenseitern überlassen: „Die Bundesregierung muss sich im Rahmen der G8 dafür einsetzen, dass Spekulationsgeschäften mit Grundnahrungsmitteln ein Riegel vorgeschoben wird“, sagte die GRÜNE Bärbel Höhn dem Lokalteil der Dortmunder Ruhr Nachrichten. Viel Zeit bleibt für solche Forderungen nicht.
Der mögliche Handel mit Futures wurde im Islam schon früh besprochen. Bekannterweise hatte schon der Prophet Muhammad, Friede sei mit ihm, den Handel mit noch nicht gereiften Früchten ausdrücklich verboten. Der allgegenwärtige Respekt vor dem Prozess der Schöpfung verbot es dem Menschen, mit etwas Handel zu treiben, was noch gar reif und damit für ihn noch nicht verfügbar war.
Das Nachdenken über die Legitimität und die langfristigen Folgen ökonomischer Transaktionen ist im Islam und in seinen Lehrbüchern eine wichtige, breit dokumentierte Wissenschaft. Das ökonomische Grundgeschehen beschreibt beispielsweise eine berühmte Episode in der berühmten Al-Muwatta des Imam Malik:
Jahja überlieferte mir von Malik, dass er davon gehört habe, dass den Leuten in der Zeit von Marwan ibn Al-Hakam [Amir von Medina] Bezugsscheine für die Produkte auf dem Markt von Al-Dschar gegeben wurden. Die Leute kauften und verkauften diese Bezugsscheine, bevor sie diese gegen die Waren eintauschten. Zaid ibn Thabit und einer der Gefährten des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, gingen zu Marwan ibn Al-Hakam und fragten ihn: „Marwan! Erklärst du Wucher für Halal?“ Er antwortete: „Ich suche Zuflucht vor Allah! Was ist das?“ Zaid erklärte ihm: „Diese Bezugsscheine, welche die Leute kaufen und verkaufen, bevor sie die Waren in Empfang nehmen.“ Marwan sandte daher einen Wächter, der ihnen folgen sollte, damit die Bezugsscheine aus den Händen der Leute genommen werden und ihren Besitzern zurückgegeben werden konnten.