Schon Foucault gab den Rat, sich über die Humanität einer Gesellschaft nicht nur durch regelmäßiges Lesen der Feuilletons klar zu werden, sondern auch durch Besuche am Rande der Gesellschaft, also in Krankenhäusern, Gefängnissen, Asylantenheimen oder Altersheimen. Die Gefahr aus Sicht der modernen Philosophie ist seit einiger Zeit klar benannt, es könnten, so einige Philosophen warnend, jederzeit und an jedem Ort „Orte ohne Ordnung“ entstehen. Diese absolut rechtlosen Orte sind heute als integrierter Bestandteil des modernen Nomos durch „Guantanamo“ symbolisiert. Eine staatliche Macht beweist hier, dass sie jederzeit in der Lage ist, Ausnahmerecht und Ausnahmezustände zu etablieren, dass sie vermag, das nackte, rechtlose Leben und damit ihre ultimative Macht öffentlich zur Schau zu stellen. Noch beruhigt uns die scheinbare politische und geographische Ferne zu diesem Phänomen.
Man wird einwenden, dass es sich hier tatsächlich um bedauerliche Einzelfälle handelt. Das stimmt, vor allem wenn man die Lager dieser Zeit mit den russischen Massenlagern oder gar dem Vernichtungslager Auschwitz vergleicht. Bedenklich ist es aber natürlich, dass es nach wie vor immerhin die Möglichkeit der Lager gibt. Die bloße Existenz dieser Lager zeigt, dass das Lager nach wie vor eine latente Handlungsmöglichkeit moderner Staaten darstellt. Gerade der Umgang mit Häftlingen, deren Rechte natürlich ganz bewusst eingeschränkt sind, zeigt, dass der moderne Staat seine biopolitische Macht künftig nicht nur durch die Gewährung oder Nicht-Gewährung von bestimmter Medizin, sondern auch in der Schaffung nackten, rechtlosen Lebens verstehen könnte. Die Europäische Union versucht schon seit geraumer, Zeit den anschwellenden Zufluss von Asylanten in Auffanglagern in Afrika zu kanalisieren.
So wie es im Lager unserer Fabriken Bestände von Materialien gibt, so entstehen zweifellos weltweit neue Lager mit Beständen von Menschen. Heikel wird die Lage, wenn diese Menschen tatsächlich nur noch das nackte Menschenleben und damit ein bloßes „Menschenrecht“ haben, denn was zählen schon diese Rechte, wenn sie nicht zugleich auch justitiable Bürgerrechte sind? Wie gesagt, alles weit weg. Wirklich? Hierzu passt eine Meldung dieser Tage aus Hamburg. Hamburg ist eine typisch deutsche Großstadt, mit diversen Parallelgesellschaften, die durch Reiche und Arme, Ausländer und Arbeitslose gebildet werden. Man denke nur an Wilhemsburg, Blankenese oder St. Pauli (mit der unrühmlichen Zwangsprostitution, der anderen Form der Produktion nackten Lebens). Der entsprechende, isoliert betrachtet harmlos klingende Vorfall spielt also nicht in Kuba, sondern mitten in einer unserer zivilisierten Städte.
„Vorfälle mit zwei nackt auf Liegen gefesselten Strafgefangenen haben heftige Kritik an der Hamburger Justizpolitik ausgelöst.“ Die Justizbehörde bestätigte am Samstag Teile eines Berichts des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Ein Rechtsanwalt wirft der Behörde darin vor, eine Verfügung erlassen zu haben, nach der randalierende Häftlinge zwangsweise zu entkleiden seien. Hieraus entwickelt sich nun weniger ein philosophischer Diskurs, als ein ordentlicher deutscher Disput über die Anwendung von Verwaltungsvorschriften. „Es gibt keine Anweisung der Justizbehörde, wonach Gefangene entkleidet zu fesseln sind. Dieser Vorwurf ist unhaltbar und falsch“, sagte ein Sprecher der Justizbehörde. Sachlich heißt es weiter: Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs könnten als letztes Mittel angewendet werden, wenn die Gefahr bestehe, dass der Gefangene sich selbst oder Bedienstete gefährde. Die Fesselung mit Entkleidung sei eine absolute Ausnahme. In besonderen Ausnahmefällen sei es geboten, die Gefangenen zu entkleiden, um festzustellen, ob sie gefährliche Gegenstände verstecken. In den beiden genannten Fällen ließen sich die Gefangenen anschließend nicht neu anziehen. Daher hätten die Beamten sie jeweils mit einer Decke zugedeckt.
Klingt logisch, stünde dieser Vorfall nicht im Kontext sensibilisierter Wahrnehmung über den Umgang mit Rechtlosen. Der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Andreas Dressel kritisierte dann auch, es sei rechtswidrig, einen entkleideten Gefangenen zu fesseln. Nur eine der beiden Maßnahmen zur Zeit sei zulässig. Die Vorwürfe seien „äußerst schwerwiegend in einer Zeit, in der weltweit über die Behandlung von Häftlingen diskutiert wird“, mahnte Dressel vor dem Hintergrund der Kritik am Umgang von US-Soldaten mit irakischen Gefangenen. Wie immer man diese Einzelfälle beurteilt, die sicherheitstechnische Aufrüstung der modernen Staaten und der einhergehende Mentalitätswechsel macht dennoch Sorge. Vor allem auch, weil der Staat sich immer weniger damit rechtfertigen kann, dass er Arbeit und Wohlstand sichert, sondern seine zentrale öffentliche Funktion zunehmend in der Gewährung absoluter Sicherheit sehen will. Guy Debord hat dieses Phänomen und die Wirkung auf die Bevölkerung einmal so beschrieben:
„Die so vollkommene Demokratie stellt selbst ihren unvorstellbaren Feind her, den Terrorismus. Sie will nämlich lieber, dass man sie nach ihren Feinden und weniger nach ihren Ergebnissen beurteilt. Die Geschichte des Terrorismus wird vom Staat geschrieben, ihr kommt somit erzieherischer Wert zu. Selbstverständlich können die zuschauenden Bevölkerungen nicht alles über den Terrorismus wissen, stets aber genug, um überzeugt davon zu sein, dass, verglichen mit diesem Terrorismus, ihnen alles gegenüber eher akzeptabel zu erscheinen hat, jedenfalls rationaler und demokratischer.“