Keine Frage, der Massenmord des 11. September stellte eine Zeitenwende im politischen Diskurs dar. Nach dem Fall des Kommunismus konnte sich – zumindest aus westlicher Sicht – eigentlich nur noch die demokratische Kultur und ihr großer Bruder, der Kapitalismus, auf dem ganzen Planeten entfalten. Dem politischen Wettbewerb im Weltmaßstab waren seine Konkurrenten, der politischen Dialektik die Gegner ausgegangen. Die demokratische Kultur, per Definition alternativlos, ist nun in ihrer eigenen Totalität angekommen. Der Siegeszug der Demokratie schien also zu Beginn des 21. Jahrhunderts beinahe sicher, wären da nicht neue reale Gegenspieler: archaische Horden von Terroristen, die Massen der Verarmten, Globalisierungsgegner und einige national operierende Despoten.
Dennoch steht heute auch im Westen das Erfolgsmodell „Demokratie und Kapitalismus“ durchaus im Zwielicht. Während die islamische Welt dem Kasinokapitalismus frönt, reflektiert man bei uns über die Schattenseiten des Kapitalismus. Ganz abgesehen von den Schuldenfallen von IWF und WTO stellt sich eine neue fundamentale Frage: Was geschieht, wenn der die „Demokratie“ ökonomisch umgreifende Kapitalismus alle ihre politischen Institutionen so durchdringen würde, dass seine vermeintlich eigene politische Form kein demokratisches Korrektiv mehr für ihn bildet? Das Problem ist also nicht die Demokratie, das Problem ist der radikal intolerante Kapitalismus. Schon heute ist das Gros aller Konflikte nicht einem „Kampf der Kulturen“, sondern der ökonomischen Unordnung geschuldet. Was also, wenn eines nicht so fernen Tages der globale Kapitalismus die Demokratie nicht mehr nötig haben sollte?
Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk beschreibt den sich abzeichnenden Veränderungsdruck des globalen Kapitals auf die national beschränkten Demokratien. Für Sloterdijk steht innerhalb des „Weltinnenraums des Kapitals“ die Freiheit, die seiner Sicht nach nur noch ein wohl weltfremdes Bündnis von Askese und Demokratie zu retten imstande wäre, selbst zur Disposition. Die Freiheitsspielräume, so Sloterdijk, gehen zunehmend verloren, und wir erleben nichts anderes als den Übergang zu postliberalen Formen:
„Man hat die Wahl zwischen einem eher parteidiktatorischen Modus wie in China, einem staatsdiktatorischen Modus wie in der Sowjetunion, einem stimmungsdiktatorischen Modus wie in den USA und schließlich einem mediendiktatorischen Modus wie in Berlusconis Italien. Der Berlusconismus ist der europäische Testballon der neo-autoritären Wende.“
Das Bekenntnis zur Demokratie muss heute mit der Frage, „Was für eine Demokratie?“ konkretisiert werden. Dafür will sich die oberflächliche Debatte aber keine Zeit nehmen. Gerade uns Muslimen, die wir uns gebetsmühlenartig zu den demokratischen Werten zu bekennen haben, kommt hier die Rolle der interessiert Fragenden zu. Was ist das Menschenrecht ohne Bürgerrecht wert? Was ist heute globale Demokratie? Ist China eine Demokratie? Oder ist China gar eine Art neuer kapitalistischer Idealstaat, mit ungezügelter Freiheit für das Kapital und einem Staat, der die wenig erfreuliche Drecksarbeit, die Arbeiter zu kontrollieren, übernimmt, wie es mit drastischen Worten der slowenische Philosoph Slavoj Zizek formuliert. Zizek sieht auch im sich gerne als vorbildlich gebenden Westen die schleichende Erosion der demokratischen Form. Das Gewicht der politischen Partizipationsmöglichkeiten des Einzelnen vergleicht Zizek dabei mit der Benutzung des „Tür-zu-Knopf“ im Aufzug. Die Beteiligung wird abstrakt, folgenlos, die Partizipation erscheint so dem politisch Denkenden beinahe illusorisch.
Natürlich, die Erde ist nach wie vor ein unruhiger Ort, und im Vergleich zu weiten Teilen unseres Planeten lebt es sich zwischen Berlin und Baden-Baden immer noch gemütlich. Die Gemütlichkeit mag trügen. Das Flüchtlingsdrama von Melilla hat gezeigt, dass der neue Limes auf dieser Erde nicht etwa Kulturen, wohl aber „Reiche“ und „Arme“ trennt. Wir leben in Deutschland materiell gesehen noch in einer behüteten Zone. Das Entstehen von Lagern an diesen Außenlinien unserer Wohlstandsgesellschaft und das Auftauchen der politischen Figur des Homo Sacer, der nichts mehr hat außer seinem Körper, ist dabei der Modernität unserer globalen Ordnungsprinzipien geschuldet. In Afrika marodieren unsere Unternehmen, einen Nomos etablieren sie nicht. In unserem Verhältnis zum Süden zeigt sich auch die tiefe Kluft zwischen dem christlichen Anspruch Europas und seiner aktuellen Politik.
In der islamischen Welt ist das politische Feld heute bekannterweise von tiefen Widersprüchen zerfurcht. In den von Despoten geführten arabischen Ländern, nichts anderes als kommissarisch geführten Diktaturen, erhoffen sich die Massen von der Demokratie Bürgerrechte und gerechte Verteilung des Wohlstandes. Die Zakat, die aus dem Islam heraus die gerechte Verteilung des Wohlstandes anmahnt, ist in islamischen Ländern zum politisch bedeutungslosen Ritual degradiert. Dennoch stört den muslimischen Intellekt die doppelzüngige Frage an die islamischen Länder, ob sie denn demokratiefähig seien, wo doch jeder weiß, dass kaum einer der Despoten sich ohne den Westen nur einen Tag an der Macht halten könnte. Unser Reichtum hängt nicht unerheblich vom alltäglichen Eingriff in den Verteilungskampf um die knappen Ressourcen ab. Was wäre denn, wenn demokratisch gewählte Regierungen in Riad oder Tripolis das Öl an Dritte verkaufen würden?
Die vielbesungene Aufklärung, die uns hier im Westen stolz macht, hat das ökonomische Feld noch immer ausgespart. Noch immer „glauben“ wir an endloses Wachstum, an den Abbau des Schuldenberges und an unser natürliches Zugriffsrecht auf die Ressourcen der Welt. Die wundersame Geldvermehrung gehört zu den absurden Seiten der kapitalistischen Religion. Die Grenzen des Wachstums sind aber natürlich nicht verschwunden, deswegen kehrt notwendigerweise die alte Geopolitik zurück. Wir kämpfen nicht mehr um Lebensraum, sondern um Öl für unsere Autos. Das Problem für die westlichen Demokratien ist es nun, ihren Hunger nach neuen Ressourcen „demokratisch“ zu legitimieren. Interessant sind dabei gerade die Gründungsakte der Demokratie, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker, also das einzige legitime Subjekt der Demokratie, geflissentlich übersehen.
Die Analyse des Terrorismus zeigt heute, dass dieses Phänomen nicht nur den Sicherheitsweltstaat hervorbringt, sondern auch als Legitimation für die Notwendigkeit eines globalen Empire dient. Für John Gray ist der Terror und die Al-Qaida eine Begleiterscheinung der Globalisierung und eine sehr moderne Organisation. Sie sind triste Kinder der Modernisierung, Muslime, die an den Stätten ihrer Kindheit den Kontext von Moschee, Markt und Zakat niemals vorgefunden hatten und nun Mitglieder revolutionärer „Stoßtrupps“ (einer der modernen Begriffe von Sajjid Qutb) wurden. Ihr Selbstmord erscheint Zizek eher wie die Manifestation eines Zweifelnden, der nun endlich wissen möchte, was er im Grunde nicht weiß und spirituell nicht erfahren konnte, nämlich ob sich hinter der Tür ein weiterer Raum versteckt. Als modernistische Ideologie, so Zizek in seiner brillianten Analyse „Willkommen in der Wüste des Realen“, will sie Kapitalismus ohne Kapitalismus. Ein Phantasialand der Orthodoxie, ohne ökonomische Alternative, aber mit Alkoholverbot und kopftuchtragenden Frauen. Der Dollar ist auch bei Terroristen das begehrteste Kulturgut.
Für den Liberalismus ist die Möglichkeit, für eine politische Sache sterben zu wollen, denkunmöglich. In der politischen Theorie und innerhalb des Wertetableaus stellt der Terrorist oder Selbstmordattentäter als politische Figur damit den absoluten Unwert dar. Er ist zudem kein Feind, ist wertlos und als Unmensch eigentlich beinahe ein Tier. Käfig, Lager und Hundeleine sind die logischen zivilisatorischen Gegenmaßnahmen. Die frevlerischen Taten selbst folgen letzter biopolitischer Logik – der Täter setzt einem als übermächtig vorgestellten Gegner seinen Körper, wie wir meinen, nicht jedoch seinen Glauben entgegen. Es ist ihm nichts mehr geblieben als dieser Körper, und in Verkennung der Offenbarung schändet er zu guter Letzt seine Existenz, die ihn eigentlich in die nächste Welt bringen sollte. Ende schlecht, alles schlecht.
Die politischen Folgen des Terrorismus sind gerade für die islamische Gemeinschaft, aber auch für Nicht-Muslime verheerend. Man denke nur an die evidente Schwächung der wichtigen Anti-Globalisierungsbewegung, die den politischen Diskurs belebt. Uns Muslimen geht es übrigens nicht nur um das Beweinen der vordergründigen Imageschäden, da die Sehnsucht nach Anerkennung, die man heute bei muslimischen Funktionsträgern beobachten kann, eine eher säkulare Kategorie ist. Das schließt Ärger nicht aus. Natürlich ist der uferlose politische Begriff des „Islamisten“ eine grobe Vereinfachung, und wie jede andere Vereinfachung eine der bekannten Vorstufen einer durchaus zu befürchtenden Verfolgung. Ganz abgesehen von der typischen, abgründigen deutschen Unfähigkeit, orthodoxer religiöser Lebenspraxis den Respekt zu zollen. Dem politischen Beobachter wird auch aufgefallen sein, dass der Begriff der Ausländerfeindlichkeit geräuschlos aus der Debatte entfernt wurde. Es geht uns aber noch mehr um den bedauerlichen Umstand, dass unter den Staubwolken des Terrors auch der Islam selbst kaum mehr erkennbar ist. In der über den Islam zu Rate ziehenden Öffentlichkeit erscheint es so, als gäbe es nur hirnrissigen Fundamentalismus oder banale Esoterik. In beiden Fällen verliert der Islam den Charakter einer glaubwürdigen alternativen Lebenspraxis.
Die Denunziation des Glaubens hat heute erschreckende Ausmaße angenommen. Auf der muslimischen Seite braucht es nun eine Kritik des islamischen Modernismus, allerdings eine Kritik, die in den Islam hinein-, nicht hinausführt. Die Eckpunkte sind klar: Islam ist weder Ideologie noch eine totalitäre Lebensform und als organische Lebensform auch kein System mit Totalitätsanspruch. Islamisches Denken lebt von der Eigenständigkeit seiner Terminologie. Auch ohne die blumigen Begriffe der Toleranz hat der Islam andere Lebensformen in nächster Nähe und über lange Jahrhunderte respektiert.