Peter Scholl-Latour (Lebensmotto von Shaw „Man hüte sich vor alten Männern, denn die haben nichts mehr zu verlieren“) ist kein Mann stumpfer Stereotypen. Auf die Frage „Ist die Re-Islamisierung in der Türkei Ihrer Meinung nach eine Gefahr für uns oder nicht?“ gibt er in einem Interview die folgende ungewöhnliche Antwort:
Scholl-Latour: Ich finde es nicht gefährlich, wenn ein Land zu seinen religiösen Wurzeln zurückkehrt. Es ist nicht angemessen, von vornherein eine strenge Auslegung des Islam zu verdammen, nur weil wir im Westen uns die völlige Relativierung der Religion angewöhnt haben und der deutsche Bundeskanzler nicht einmal mehr ein «So wahr mir Gott helfe» über die Lippen bringt. Man lacht bei uns über die Jungfrauengeburt Mariae, aber sie steht auch im Koran und gehört deshalb zum festen Glaubensgut des Islam. Die Rückkehr zur Verbindlichkeit des Islam ist kein Islamismus, wie wir das gerne unterstellen, es ist lediglich das Wesen des wahren Islam. Und dass eine Religion ein Grundgesetz als nachgeordnet betrachtet, das liegt im Wesen einer jeden Religion, die sich noch selbst ernst nimmt. Ich halte eine gewisse Re-Islamisierung für das gute Recht der Türken, und eine vergleichbare christliche Renaissance würde auch uns Europäern ganz gut tun. Aber das Wort «Fundamentalist» hat bei uns ja bereits eine ausschliesslich pejorative Bedeutung angenommen. Natürlich folgt der Islam in der Türkei einem Selbstverständnis, für das viele Zeitgenossen, die sich für besonders aufgeklärt halten, bei uns kein Verständnis haben. Stichwort Kopftuchverbot in Deutschland oder Frankreich, das ich für einen Fehler halte. Islam gleich Islamismus – dass das nicht so einfach ist, zeigt zum Beispiel, dass schon die Refah-Partei, die Vorläuferin der heutigen islamischen Regierungspartei AKP, stets Kontakte zu Israel unterhielt. Andererseits wird natürlich mit der Hinwendung zum Islam auch eine verstärkte Solidarisierung mit den Muslimen in der ganzen Umma, der weltweiten Glaubensgemeinschaft, bewirkt.